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Ulrike Mascher plädiert für einen Freibetrag von 100 Euro in der Grundsicherung für die Mütterrente.

© picture-alliance/ dpa

Sozialverbands-Chefin Ulrike Mascher im Interview: „Die Würde der Menschen bleibt auf der Strecke“

Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK, beklagt im Tagesspiegel-Interview Lücken in der Mütterrente und erklärt, warum sich das Verfassungsgericht mit der Pflege beschäftigen soll.

Frau Mascher, die Regierung gibt bis 2030 mehr als 120 Milliarden Euro für Rentenverbesserungen aus. Ein Riesenerfolg für Sie und Ihren Verband, oder?

Es ist ein Erfolg für uns, dass es endlich Verbesserungen für Rentnerinnen und Rentner ab 1. Juli geben wird. Aber das Rentenpaket reicht nicht aus. Es gibt eine Menge Probleme, die nicht gelöst werden.

Was fehlt denn?

Es wird nicht genügend für diejenigen getan, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können und deshalb viel früher in Rente gehen müssen. Bei uns landen Menschen mit Erwerbsminderung viel zu oft in der Grundsicherung. Und mich stört noch eines. Für Mütter, die vor 1992 ihre Kinder geboren haben, gibt es durch die verbesserte Anerkennung von Kindererziehungszeiten zwar mehr Gerechtigkeit. Aber sie sind noch nicht gleichgestellt mit den jüngeren Müttern, sie bekommen immer noch ein Jahr weniger angerechnet. Das ist ungerecht. Dabei haben sie ihre Kinder unter Bedingungen großgezogen, die ganz anders waren als heute: In Westdeutschland gab es nur wenig Kinderbetreuung, Ganztagsschulen lagen in weiter Ferne.

Kritiker sagen, dass die jüngere Generation den Preis für dieses Rentenpaket zahlen muss. Stört Sie das nicht?

Es macht keinen Sinn, Jung gegen Alt auszuspielen. Entscheidend für die Finanzierung der Rente ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Es kommt nicht nur darauf an, wie viele Rentner es gibt. Viel wichtiger ist, dass es genügend Erwerbstätige gibt, die anständige Löhne und Gehälter bekommen. Wir müssen uns also darum kümmern, dass junge Leute eine gute Ausbildung bekommen und ihnen der Einstieg in den Job gelingt. Dann müssen wir uns auch um die Finanzierung der Rente keine Sorgen machen.

In den letzten Jahren ist immer wieder vor drohender Altersarmut gewarnt worden. Hilft das Rentenpaket denn da überhaupt?

Ja, die Mütterrente hilft zumindest etwas. Bei zwei Kindern sind es schon 56 Euro mehr Rente im Monat. Das ist keine unbeachtliche Summe, wenn man sieht, wie niedrig die durchschnittlichen Renten der Frauen aus dieser Generation sind. Ich sehe aber ein Problem: Die Frauen, die so elend wenig Rente bekommen, dass sie auf Grundsicherung angewiesen sind, haben von der Mütterrente nichts, weil sie angerechnet wird. Das ist ungerecht. Schließlich sollen nicht die Kommunen finanziell entlastet werden, sondern die Mütter eine materielle Anerkennung für ihre Erziehungsleistung bekommen.

Muss die Politik da nachbessern?

Unbedingt. Ich fände einen Freibetrag in der Grundsicherung sinnvoll, ich würde mir bis zu 100 Euro wünschen.

Was muss noch getan werden, um Altersarmut zu verhindern?

Bei allem sozialen Ausgleich im Rentenrecht kann man nicht auffangen, was in der Phase der Erwerbstätigkeit und Ausbildung schiefläuft. Wer die Schule ohne Abschluss verlässt, hat kaum eine Chance auf eine Lehrstelle und später einen ordentlichen Job. Und wer von seinem Lohn nicht leben kann, wird auch eine Armutsrente haben. Der Mindestlohn von 8,50 Euro, den die Bundesregierung jetzt einführen will, ist endlich ein erster Schritt, um einen Boden nach unten einzuziehen. Aber er muss auch orientiert an der Lohn- und Gehaltsentwicklung weiter steigen.

Zur Finanzierung des Rentenpakets greift die Koalition auf die Reserven der Rentenkassen zurück. Ist das gerechtfertigt?

Die Finanzierung der Mütterrente aus der Rentenkasse ist nicht akzeptabel. Es geht um Familienleistungen, die müssen von der gesamten Gesellschaft gezahlt werden, also von den Steuerzahlern.

Am strittigsten in der Koalition war die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren. Diese begünstigt vor allem Facharbeiter aus der Industrie. Wer in Sozialberufen arbeitet, hat wegen der schulischen Ausbildung im Regelfall keine Chance, auf die erforderliche Mindestbeitragszeit zu kommen. Empfinden Sie das als gerecht?

Ich finde es angemessen, jemanden mit 63 Jahren eine Rente ohne Abschläge zu ermöglichen, der mit 15 oder 16 Jahren angefangen hat, in einem Industriebetrieb zu arbeiten und der sein Leben lang geschuftet hat. Aber Sie haben recht: Das wird nicht ausreichen. Wir müssen uns insgesamt den Übergang in die Rente angucken. Es gibt Berufe, in denen die Leute körperlich und psychisch so stark belastet sind, dass sie nicht bis 65 oder 67 arbeiten können. Da muss noch eine Menge passieren, auch in den Betrieben.

In Sachen Pflege will der VdK wegen Untätigkeit der Regierenden vors Verfassungsgericht ziehen. Warum gerade jetzt, wo eine große Pflegereform angekündigt wird?

Laut Koalitionsvertrag soll es in dieser Legislatur eine große Pflegereform mit einer Neudefinition von Pflege geben. Menschen mit Demenz sollen endlich auch in die Systematik der Pflegeversicherung einbezogen werden. Aber wir haben die Sorge, dass die überfällige Pflegereform wieder vertagt wird.

Warum?

Dieser Vorschlag lag schon 2009 auf dem Tisch. Dann wurde das Projekt auf die nächste Wahlperiode verschoben. 2011 hat Philipp Rösler das Jahr der Pflege ausgerufen, aber wieder ist nichts passiert. Nun hören wir, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll erst in einer zweiten Stufe der Reform kommen, im Jahr 2017. Da ist schon wieder Bundestagswahl. Wir haben das flaue Gefühl, dass die Benachteiligung der Demenzkranken, die seit Beginn in der Pflegeversicherung existiert, wieder nicht angepackt wird. Daher nutzen wir alle Möglichkeiten, Druck auszuüben. Und dazu gehört die Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, auch wenn die Bundeskanzlerin uns gebeten hat, davon Abstand zu nehmen.

"Viele Pflegekräfte quittieren den Beruf, weil sie unter diesen Bedingungen nicht arbeiten können"

Was läuft denn schief in der Pflege, welche Grundrechte sehen Sie verletzt?

Wenn Sie pflegebedürftig werden, können Sie nicht sicher sein, wirklich fachlich gute Pflege bekommen. Die Pflegekräfte arbeiten unter unglaublichem Zeitdruck. Viele quittieren ihren Beruf, weil sie unter diesen Bedingungen nicht arbeiten können, wie sie es gelernt haben. Es herrscht das Diktat der Minutenpflege. Dabei bleibt die Würde der Menschen auf der Strecke. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn alte Menschen nicht mehr zur Toilette geführt werden und stundenlang in schmutzigen Windeln liegen müssen, hat das mit menschenwürdiger Pflege nichts mehr zu tun.

Die Regierung plant eine Steigerung der Pflegeausgaben um gut 20 Prozent. Pro Jahr sollen künftig fünf Milliarden Euro zusätzlich in die Pflege fließen. Reicht das denn nicht?

Wenn die fünf Milliarden wirklich den Pflegebedürftigen zugutekämen, würde es reichen. Aber der Plan ist, davon jährlich eine Milliarde in einen Vorsorgefonds zu stecken. Das ist Geld, das den Pflegebedürftigen weder jetzt noch später zugutekommt. Die Rücklage ist einzig dafür gedacht, ab 2030 den Beitragssatz dämpfen zu können.

Ist ein Vorsorgefonds für die geburtenstarken Jahrgänge denn nicht auch sinnvoll?

Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Rücklagen von der Politik anderweitig verwendet wurden. Der Finanzminister bedient sich gerade in der Rentenversicherung, um einen Haushalt ohne Neuverschuldung hinzubekommen. Im Gesundheitsbereich dient der gut aufgefüllte Fonds dafür, den Steuerzuschuss für die kostenlose Mitversicherung von Kindern kürzen zu können. Immer, wenn ein Geldtopf angelegt wird, besteht die Gefahr, dass ein Finanzminister zugreift. Das können Sie gar nicht verhindern. Der CDU-Politiker Jens Spahn, der sich so für den Pflegefonds engagiert, hat ja in schöner Offenheit zugegeben, dass es sich dabei nur um Symbolik handelt. Die Pflegebedürftigen brauchen aber keine symbolischen Handlungen, sie brauchen handfeste Hilfe und Verbesserung. Wir sollten auf den Fonds verzichten und ihnen das Geld ungeschmälert zukommen lassen.

Als Verband dürfen Sie nicht klagen. Haben Sie schon genügend Einzelkläger für Karlsruhe gefunden?

Wir haben eine ganze Reihe von Pflegebedürftigen und Angehörigen gefunden, die bereit sind, mit uns vor das Verfassungsgericht nach Karlsruhe zu gehen. Die einzelnen Beschwerden müssen jetzt vorbereitet werden, vor der Sommerpause wollen wir sie einreichen.

Der VdK hat 1,7 Millionen Mitglieder, Tendenz steigend. Worauf führen Sie das Interesse zurück? Kommen die Leute auch wegen der gesellschaftlichen Entwicklung zu Ihnen, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht?

Viele kommen zu uns, weil sie Sozialrechtsberatung brauchen. Sie bekommen nicht das, was ihnen zusteht. Wir wollen ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Andere kommen zu uns, weil sie unsere Positionen unterstützen wollen.

Das Interview führten Cordula Eubel und Rainer Woratschka

ZUR PERSON

Seit 2008 ist Ulrike Mascher (75) Präsidentin des Sozialverbands VdK. Die Juristin war in den 60er Jahren als Regieassistentin tätig, später arbeitete sie als Versicherungsangestellte bei der Allianz. Mascher war für die SPD Stadträtin in München und saß später im Bundestag. Von 1998 bis 2002 brachte sie als Parlamentarische Staatssekretärin unter Walter Riester die Rentenreform mit auf den Weg. Mit 1,7 Millionen Mitgliedern ist der 1950 gegründete VdK der größte deutsche Sozialverband. Der Verband bietet Beratung im Sozialrecht, mischt sich aber auch in aktuelle politische Debatten ein.

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