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Wolfgang Drexler.

© dpa

Stuttgart 21: "Überall wurde gebaut, nur nicht bei uns"

Wolfgang Drexler, Beauftragter der Bahn für den Bahnhof Stuttgart 21, über den Streit um das Bauprojekt und das Kalkül des Staatskonzerns

Herr Drexler, Studenten beschmieren sich mit Ketchup, Besetzer ketten sich in Erwachsenenwindeln an den Bahnhof, der Vorplatz wird umgetauft in „Platz des Himmlischen Friedens“. Warum gibt es so erbitterten Widerstand gegen eine Baustelle?

Wir sind in einer schwierigen Situation. Bis 2007/2008 waren die Bürger mehrheitlich für Stuttgart 21. Nach der Bürgerbeteiligung zur städtebaulichen Entwicklung 1997, die eine Vergrößerung des Schlossparks erreicht hat, hat man aber nichts mehr unternommen, um die Menschen von dem Vorhaben zu überzeugen. Das Ergebnis haben wir jetzt.

Man könnte annehmen, es ginge um den Bau eines Atomkraftwerks.

Ja, merkwürdig, nicht wahr? Deshalb haben wir vor einem Jahr ein Kommunikationsbüro aufgebaut, das über das Projekt informiert. Aber mit vielen Informationen dringt man nicht mehr durch. In Wien, wo auch zwei Kopfbahnhöfe verschwinden sollen, ist die Stimmung viel besser, da war man umsichtiger. Ich habe mit Protesten gerechnet, aber quasireligiöse Veranstaltungen wie Gelöbnisse oder Reden unter der Bluteiche habe ich nicht erwartet.

Demonstranten werfen der Bahn vor, sie ignoriere Kritik, die Grünen regen eine Konferenz an, um das Vorhaben noch einmal grundlegend zu diskutieren.

Seit 17 Jahren reden wir über Stuttgart 21, vor 2001 gab es die Grundsatzbeschlüsse. Eine Bürgerbeteiligung hätte bis dahin jeder beantragen können, auch die Grünen. Haben sie aber nicht. Jetzt geht das rechtlich nicht mehr. Das Vorgehen der Grünen ist eigenartig – 14 Tage nachdem sich der Landtag im Juli mit großer Mehrheit gegen ein Bau-Moratorium ausgesprochen hat, sind sie mit dieser Idee gekommen.

Verstehen Sie die Skepsis der Bürger nach den jüngsten Erfahrungen mit Großprojekten? Der Pfusch beim Kölner U-Bahn-Bau hat zwei Menschen das Leben gekostet.

Die Risiken wurden von Experten analysiert, etwa die Belastung des Grundwassers. Wir bauen modernste, umweltfreundliche Schienenstrecken. Die Fahrzeiten werden kürzer, die Stadt gewinnt wertvolle Flächen.

Was ist das betriebswirtschaftliche Interesse der Bahn? Das Image, durch die ICE-Klimaanlagen und die S-Bahn Berlin angeknackst, dürfte weiter leiden.

Sie bekommt einen Ersatz für den Kopfbahnhof, der nicht mehr leistungsfähig ist. Er müsste ohnehin umgebaut werden, das sehen auch die Gegner ein. Wir haben nur fünf Zugangsgleise für die 16 Gleise, das ist ein Nadelöhr. Ein Durchgangsbahnhof zusammen mit dem neuen Bahnhof am Flughafen verknüpft Auto, Zug und Flugzeug viel besser. Durch schnelle ICE-Verbindungen werden Kurzstreckenflüge ersetzt, das nützt auch der Umwelt.

Warum hält die Bahn ihre internen Kalkulationen unter Verschluss?

Die Bahn legt wie alle anderen Firmen auch sensible Daten in keinem Bereich offen, sonst könnten ja Konkurrenten oder Baufirmen daraus Schlüsse ziehen.

Wäre es nicht effektiver, das Geld in den Ausbau des Güterverkehrs zu stecken, der stark zunehmen soll?

Die Schnelltrasse Wendlingen–Ulm ist auch für schnelle Güterzüge gedacht, die im ICE-Tempo unterwegs sein können. Sie könnten die Straße entlasten. Nur weil es so etwas heute noch nicht gibt, ist die Idee nicht falsch.

In einem Gutachten des Umweltbundesamtes heißt es, Stuttgart 21 sei verkehrspolitisch nutzlos.

Das ist kein Gutachten des Umweltbundesamtes, sondern die Auffassung eines Verkehrswissenschaftlers, der seit Jahren gegen das Projekt kämpft und die sich das Umweltbundesamt nicht zu eigen macht. Abgesehen davon haben wir ein großes Verkehrsproblem in der Region Stuttgart mit rund drei Millionen Einwohnern, in der sich morgens, mittags und abends die Autos stauen. Auch wegen unserer großen Industrie brauchen wir eine leistungsfähige Infrastruktur. 80 000 Tonnen CO2 ließen sich laut der Universität Stuttgart bei Stuttgart 21einsparen, wenn Autoverkehr auf die Schiene verlagert würde.

Es gab bei jedem Bahn-Großprojekt eine Kostenexplosion – die Strecke Köln–Frankfurt wurde doppelt so teuer wie geplant. Warum soll das bei Stuttgart 21 anders sein?

Die letzte Kalkulation über 4,088 Milliarden Euro stammt vom Dezember 2009, kurz vor Beginn der Bauarbeiten. Darin enthalten ist schon ein Puffer für mögliche Preissteigerungen von 323 Millionen Euro. Zusätzlich gibt es einen Risikofonds, in dem noch 438 Millionen Euro für Risiken während der Bauzeit enthalten sind, also insgesamt ein Puffer von 760 Millionen. Dies gab es bisher bei keinem anderen Projekt dieser Größenordnung.

Bei der Neubaustrecke nach Ulm ist der Bund aber voll im Risiko.

Aus- und Neubaustrecken waren schon immer Sache des Bundes.

Fühlt sich Baden-Württemberg vernachlässigt, weil seit der Wende das meiste Geld in den Osten geflossen ist?

Überall wurde gebaut, nur nicht bei uns. Nun muss der Staat diese Metropolregion mit Schienen versorgen. Zudem sind wir Teil der europäischen Strecke Paris–Wien–Bratislava, deshalb finanziert ja die EU mit.

Können Sie verstehen, dass die Bürger in Zeiten von Sparpaketen und der Schuldenbremse generell skeptisch sind gegenüber so teuren Vorhaben?

Ja, aber ohne notwendige Modernisierungen ist unser Wohlstand in Gefahr. Dass neue Infrastruktur im Südwesten teurer ist, liegt eben an der gebirgigen Landschaft.

Ist ein Ausstieg aus Stuttgart 21 nach einem möglichen Machtwechsel bei der Landtagswahl realistisch?

Es gibt keine Ausstiegsklausel in den Verträgen. Im Dezember 2009 hätte man das noch machen können, jetzt nicht mehr. Und die Einstellung des Baus würde nach unseren Berechnungen weit über eine Milliarde kosten, ohne dass für den Verkehr etwas erreicht wäre. Die SPD steht zu dem Projekt seit 1992. Ich bin zwar nicht der Spitzenkandidat bei der nächsten Landtagswahl, kann mir aber nicht vorstellen, dass die Sozialdemokraten so etwas tun würden.

– Das Gespräch führte Carsten Brönstrup.

ZUR PERSON

DER SPRECHER

Wolfgang Drexler (64) ist Sprecher des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm, des derzeit größten Infrastrukturvorhabens in Europa. Er leitet ein Kommunikationsbüro der Deutschen Bahn, das die Bürger von dem umstrittenen Großprojekt überzeugen soll. Diese Tätigkeit übt er ehrenamtlich aus, sie beansprucht derzeit wegen des heftigen Streits allerdings 90 Prozent seiner Zeit, wie er sagt.

DER POLITIKER

Im Hauptberuf ist Drexler nämlich SPD-Politiker und Vizepräsident des baden-württembergischen Landtags. Bis 2006 hat er die Fraktion der Sozialdemokraten geführt.

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