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Spielwiese. Komplexer Stadtverkehr ist für selbstfahrende Systeme in Autos noch ein Problem.

© Ole Spata/dpa

Thomas Wiegand von Fraunhofer zu Digitalisierung: „Das wäre unbezahlbar für Berlin“

Bei der Konferenz Digital Science Match bringt der Tagesspiegel Wissenschaft und Wirtschaft zusammen. Im Interview spricht der Chef des Fraunhofer Heinrich-Hertz-Instituts über die Bedeutung der Digitalisierung für die Hauptstadt.

Herr Wiegand, woran forschen Sie gerade konkret?

Wir arbeiten an einem neuen Video-Standard. Die Fortschritte bei der Effizienz der Datenübertragung sind enorm. In zehn Jahren sind Wände wahrscheinlich Displays. Als einer der Leiter des Fraunhofer HHI bin ich für das Thema der drahtlosen Übertragung zuständig und beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Thema der Digitalisierung.

Hier die Themen der Kompression, des Machine Learning und der Übertragungstechnik zusammen zu bringen, ist eine einzigartige Chance, die wir am HHI wahrnehmen können. Dieses Zusammenspiel wird nach unserer Überzeugung eine wichtige Grundlage für die Infrastruktur der Digitalisierung sein, was wir auch den Gesprächen mit Kollegen aus Asien und den USA entnehmen.

Vor Ihrer Zeit in Berlin haben Sie auch in den USA gearbeitet. Was läuft dort anders im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Wirtschaft?

Ein großer Unterschied besteht in der Menge des Venture Capital - und in der Art und Weise wie dieses Wagniskapital vergeben wird. Wenn Sie in den USA ein Thema richtig platzieren, bekommen Sie für ein Software-Startup relativ unkompliziert fünf bis sechs Millionen Dollar, für ein Hardwarethema auch schon mal das Doppelte. Das ist deshalb kein Problem, weil sowohl Gründer als auch Investoren in diesem Umfeld einen Ruf zu verlieren haben.

Es geht also nicht nur ums Geld.

Es gibt sicher auch eine gewachsene Struktur, eine eigene Kultur. Aber es gibt eben auch in Summe mehr Wagniskapital als in Europa. Als Firmengründer können Sie es sich mit einer guten Idee im Silicon Valley aussuchen, von wem Sie sich die Investition holen und mit wem Sie über Ihre Idee reden. Auch hierzulande gibt es inzwischen eine Gründerkultur aus den Universitäten heraus. Spin-offs ist inzwischen ein etablierter Begriff.

Thomas Wiegand
Thomas Wiegand

© privat

Wo stehen wir verglichen mit den USA?

Es ist bei uns in den letzten Jahren viel Positives geschehen. Jedoch ist es ein gewisses Problem, dass viele Innovationen auf Gebieten stattfinden, auf denen die europäische Industrie nicht so stark ist. Das Internet wie wir es heute kennen, ist in Europa in vielen Bereichen einfach verschlafen worden.

Weil in Deutschland der Glasfaserausbau verschlafen wurde, sind wir weltweit auf Platz 22 bei schnellen Festnetzanschlüssen. Um ein Start-up groß zu machen, brauchen Sie aber einen ersten wichtigen Kunden. Wenn die potenziellen Abnehmer nicht in Europa sitzen, haben Sie es als Jungunternehmer also doppelt schwer.

Wie stehen unsere Chancen, dass wir das neue Internet – das Internet der Dinge, wie es genannt wird – nicht auch verschlafen?

Das neue Internet soll sogenannte cyberphysische Systeme erzeugen – also Menschen, Autos, Werkhallen, Häuser und so weiter im Computer abbilden können. Auch ein selbstfahrendes Auto wäre solch ein cyberphysisches System. Mit den neuen Übertragungstechnologien können wir Wagen mitteilen, was in der Umgebung Relevantes geschieht und so den Verkehr sicherer und effizienter machen. Allein wegen der notwendigen Geschwindigkeit zur Datenübertragung können Sie solche Verkehrsnetze aber nicht aus den USA steuern.

Und das ist letztlich die große Chance, die wir haben: Die Notwendigkeit der superschnellen Reaktionszeiten bedingt, dass wir die Infrastruktur hier vor Ort aufbauen müssen. Europa hat eine Reihe von strukturellen Vorteilen gegenüber den USA und China, die hier im Aufbau dieses Taktilen Internet zum Zuge kommen könnten.

Das gilt dann auch für die industrielle Produktion?

Ja, natürlich. Wenn Sie es schaffen, die Abläufe in der Werkhalle vorherzusagen, rechnen Experten mit signifikanten Effizienzgewinnen. Die Roboter können bedeutend schneller arbeiten als heute und die Produktion kann auch bei kleinen Losgrößen effizient koordiniert werden.

Wie wichtig ist es also, dass diese Entwicklung bei uns stattfindet?

Ich halte das für existenziell. Weil sich die Produktion so grundlegend verändert, dürfen wir diese Entwicklung nicht aus der Hand geben. Das zu verschlafen wäre ein unfassbar schwerer Schlag für die Industrie hierzulande.

Keine Handys, kein Google – was sind die Ursachen für die europäische Schwäche im Bereich der IT-Industrie?

Als man in Asien erkannt hat, welchen Wert Mikroelektronik und Chiptechnologie haben, als man in den USA erkannt hat, welchen Wert Informationstechnologie hat, haben wir hierzulande noch an Themen festgehalten, die nicht sehr oder nicht mehr zukunftsfähig sind.

Steinkohle statt Informationstechnologie.

Angesichts der Digitalisierung ist die zukunftsorientierte Ausrichtung der Förderpolitik umso wichtiger. In Südkorea hat der Staat beispielsweise die Mikroelektronik gefördert – Samsung ist nicht zufällig so groß geworden. Die Chinesen haben den Mobilfunk gefördert – wahrscheinlich ist Huawei bald die größte Mobilfunkfirma der Welt. Und in den USA haben im Prinzip Privatinvestoren die Rolle des Staates eingenommen. Aber auch dort gab es eine strategische Ausrichtung. In Europa sehen wir eine Mischung aus Staat und Privat – und wir werden es richtig anpacken müssen, damit der Kontinent nicht zurückfällt.

Spüren Wirtschaft, Wissenschaft und Politik hierzulande einen erhöhten Druck durch das Thema Digitalisierung?

Ja, das ist sehr bemerkenswert. Es gibt eine hohe Aufmerksamkeit in der Politik. Die Breitbandagenda – der Ausbau des schnellen Internets in ganz Deutschland bis 2018 – ist der Bundesregierung ernst. Ich hoffe, dass jetzt die richtigen Dinge passieren. Gerade eben haben die Gespräche zum künftigen Mobilfunkstandard 5G begonnen. Dieser ist die Voraussetzung zum Beispiel für vernetzte Autos und das industrielle Internet. Hier sind wir in guten Gesprächen mit der Politik.

Was sollten konkrete Ziele sein?

Tokio hat sich zum Ziel gesetzt, 5G und damit die Voraussetzung für die Digitalisierung der Infrastruktur bis 2020 auszurollen. Aus meiner Sicht müsste eine Stadt wie Berlin sagen, das können wir schon lange. Dazu brauchen wir nicht nur Politiker, die das wollen, sondern es bedarf auch eines Konsenses in der Bevölkerung – und in der Wirtschaft. Wenn es gelänge, Konzerne wie Deutsche Telekom, Vodafone und Telefonica zu überzeugen 5G innerhalb Europas zuerst in Berlin auszurollen, hätte man schon einen großen Schritt gemacht.

Welche Chancen ergäben sich daraus für Berlin?

Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Chancen. Mit vorhandenem 5G ließe sich ein ganzes Umfeld zum Beispiel in Form von Verkehrsapps schaffen – in diesem Bereich hätten wir dann weltweit die Nase vorn. Auch in der Wirtschaft wird dadurch das Thema Industrie 4.0 erst realisierbar. Die vernetzten cyberphysischen Systeme werden alles umkrempeln – darin eine Kernkompetenz in Berlin zu haben, die weltweite Relevanz hat, wäre unbezahlbar.

Worin liegen die Hürden – bei der Wirtschaft?

Die Wirtschaft ist hellwach. Die Verbände, auch einzelne Unternehmen kommen mit sehr guten Ideen. Allerdings stecken viele Unternehmen hierzulande in einem Dilemma: Sie haben ein funktionierendes Geschäftsmodell. Daraus auch nur teilweise auszusteigen, um etwas Neues zu machen, ist eben sehr schwierig. Sich ständig neu erfinden zu können und zu wollen, ist aber im Prinzip die Voraussetzung, um in der Digitalisierung erfolgreich zu sein.

Wie kann man Unternehmen helfen, aus diesem Dilemma herauszufinden?

Eine Möglichkeit sind staatliche Förderungen. Der Staat könnte beispielsweise bestehende Geschäftsmodelle höher besteuern als Investitionen in neue Geschäftsmodelle. Der Staat sollte auch den Glasfaserausbau unterstützen. Hier liegen wir etwa zehn Jahre hinter USA und Japan. Das muss nicht teuer sein. Wenn man dafür sorgt, dass bei allen Straßenbaumaßnahmen Lehrrohre für Glasfasern verlegt werden kann man zum Beispiel den größten Teil der Kosten vermeiden.

Für Digitalisierung ist also aus Ihrer Sicht die Politik als ordnende Hand unerlässlich.

Bleiben wir bei 5G. Wir reden über eine Infrastrukturmaßnahme, die so essentiell ist wie Wasser- und Stromversorgung. Können Sie sich vorstellen, dass das Versorgungsnetz, das wir heute haben, ohne die ordnende Hand der Politik möglich gewesen wäre?!So etwas muss zum Wohle der Bevölkerung koordiniert werden. Die Erkenntnis, dass die Digitale Infrastruktur uns ebenso wichtig ist wie Wasser, Strom und Straßen ist der entscheidende Punkt.

Das Gespräch führte Simon Frost.

VERANSTALTUNGSHINWEIS

Über 100 Digital-Forscher kommen am 7. Oktober im „Kosmos“ (Karl-Marx-Allee 131a) zusammen. Beim Digital Science Match, veranstaltet von Tagesspiegel und „Die Zeit“, trifft sich die digitale Szene – Wirtschaft, Wissenschaft, Start-ups und Studierende. In Impulsvorträgen von drei Minuten Länge stellen die Forscher ihre zentralen Ideen vor. Die Keynote zur Eröffnung der Konferenz spricht Berlins Regierender Bürgermeister, Michael Müller (SPD).

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