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US-Vizepräsident Joe Biden hat sich in München energisch für ein transatlantisches Freihandels- und Partnerschaftsabkommen ausgesprochen.

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Transatlantisches Freihandelsabkommen 1: Nicht zu viel auf einmal

Washingtons Position: Am besten, alle orientieren sich an US-Standards.

Die American Chamber of Commerce will es, der Bund der Deutschen Industrie (BDI) ebenso. US-Vizepräsident Joe Biden hat sich in München energisch für ein transatlantisches Freihandels- und Partnerschaftsabkommen ausgesprochen, Kanzlerin Angela Merkel hat es zu ihrer Sache gemacht. Da Biden im Auftrag Barack Obamas sprach, hat die Idee wohl auch dessen Segen. Wenn der Präsident im Juni auf Europabesuch kommt, möchte er gewiss ein Projekt mit Strahlkraft im Gepäck haben. Möglicherweise nimmt er es bereits in seine Rede zur Lage der Nation am kommenden Dienstag auf. Was kann bei einer so breiten Koalition noch schiefgehen? Ebenso gut darf man umgekehrt fragen: Wenn es so einfach wäre, warum gibt es nicht längst ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU?

Die Idee ist nicht neu. Die Vereinfachung des Wirtschaftsaustausches wird seit Jahrzehnten unter wechselnden Namen propagiert. Am Ende waren die Beharrungskräfte und Protektionisten stärker als die Befürworter.

Was ist dieses Mal anders? Amerika und Europa suchen nach Wegen, das Wachstum anzukurbeln. Die gängigen Methoden sind verbraucht. Weitere staatliche Konjunkturprogramme verbieten sich angesichts der Schuldenberge auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Zinsen kann man kaum noch senken, sie liegen nahe null. Zölle spielen zwar keine dominierende Rolle mehr im Handel über den Atlantik. Aber der Abbau aller verbliebenen Barrieren für den Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie für Investitionen könnte nach Schätzungen einen Wachstumsschub von mehr als 1,5 Prozent auslösen. Den können die USA und die EU gut gebrauchen angesichts der lauen Konjunktur. Auf ihrem Gipfeltreffen vor einem Jahr haben sie eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die eine Empfehlung abgeben soll. Dieser Bericht wird nach mehreren Verzögerungen nun erwartet, heißt es in Washington.

Ein weltweites Freihandelsabkommen wäre Amerika noch lieber. Doch die Doha-Runde kommt nicht voran. Wenn die beste Lösung nicht zu haben ist, nehmen die USA die nächstbeste. Sie haben in jüngerer Zeit mehrere bilaterale Abkommen ausgehandelt, unter anderem mit Südkorea und Kolumbien. Und sie setzten parallel zum atlantischen Vorstoß auf eine Transpazifische Partnerschaft (TPP).

Zentrale Bedeutung für das produzierende Gewerbe hat die Einigung auf gemeinsame Standards und Industrienormen – oder, ersatzweise, die gegenseitige Anerkennung. Derzeit müssen Hersteller und ihre Zulieferer von der Auto- bis zur Energiebranche alle Teile doppelt technisch überprüfen und zulassen, einmal nach EU-, einmal nach US-Normen. Das kostet. Da keine Seite ihre Standards aufgeben will und unterschiedliche Maßeinheiten – Inch und Zentimeter, Meilen und Kilometer – die gewünschte Vereinheitlichung zusätzlich komplizieren, favorisieren Industriemanager die gegenseitige Anerkennung. Ein Kindersitz oder ein Windturbinenflügel, der auf der einen Seite zugelassen ist, soll ohne erneute Prüfung gut genug für die andere Seite sein. Im Idealfall könnte man eine breite Palette von Bereichen wie den Schutz ausländischer Investitionen und des geistigen Eigentums gleich mitregeln. Manche Experten in den USA warnen freilich: Wer zu viel auf einmal wolle, könne umso leichter scheitern.

Bislang verlegen sich viele Entscheidungsträger darauf, die Idee zu loben und dann zu warnen.

Streitthemen und Sonderinteressen erschweren die Einigung. In den USA und in der EU wird die Landwirtschaft kräftig subventioniert, auf unterschiedliche Weise. Das müsste enden. Im Flugzeugbau werfen sich Boeing und Airbus gegenseitig vor, den Wettbewerb zu verzerren. Auch Kulturunterschiede spielen eine Rolle. Amerikaner begeistern sich für technische Neuerungen, darunter genveränderte Lebensmittel und Saatgut. Viele Europäer und speziell Deutsche fürchten bedenkliche Langzeitfolgen. Sie wünschen ein Verbot. Das würde dem Prinzip der gegenseitigen Marktöffnung widersprechen. Manche Konflikte sind von bizarrer Natur: Bei der Geflügelschlachtung verwenden Betriebe in den USA Chlor, um die Hygiene zu gewährleisten. Die EU verwendet andere Chemikalien und verbietet die Einfuhr chlorbehandelten Geflügels. Amerikaner fragen: Würden die Europäer sich mit einer Kennzeichnungspflicht zufriedengeben, die es den Bürgern überlässt, ob sie genveränderte Nahrungsmittel und US-Geflügel kaufen? Die Vorstellung, dass das Abkommen trotz des erhofften gesamtwirtschaftlichen Nutzens an solchen Details scheitern könnte, lässt Industriemanager die Hände ringen.

Bei alledem blicken die USA immer auch auf Asien und vor allem auf China. Am besten wäre für sie, wenn die ganze Welt sich an US-Standards orientierte; dann hätten US-Exporteure Wettbewerbsvorteile. Zugleich sehen sie die Erfolge der EU bei den Ausfuhren nach Asien. Wenn die USA ihre Normen nicht durchsetzen, wäre es aus ihrer Sicht allemal besser, dass Amerika und Europa gemeinsam die Standards setzen, als dass China eines Tages die Normen vorgibt, weil die alten Handelsmächte sich nicht einigen konnten.

Angesichts der Widerstände der Agrarlobby und anderer Interessenten sowie der Notwendigkeit, eine Mehrheit im US- Kongress zu organisieren, der Freihandelsabkommen gern wegen angeblicher Nachteile für die US-Wirtschaft blockiert, lautet die Kernfrage für die nächsten Wochen und Monate: Werden Präsident Barack Obama und seine europäischen Partner das Projekt zu einer Priorität erklären? Werden sie trotz des Risikos, am Ende zu scheitern, politisches Kapital investieren? Nur dann hat das Freihandelsabkommen eine Chance. Bislang verlegen sich viele Entscheidungsträger in Amerika und in Europa darauf, die Idee zu loben und dann zu warnen, man wisse ja nicht so recht, wie ernst es den Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks sei. Amerikaner fragen, ob 27 EU-Staaten sich zügig auf ein Verhandlungsmandat einigen können und ob sie auch dann noch zum Abschluss bereit sind, wenn sich herausstellt, welche Gruppen in ihren Ländern womöglich Nachteile befürchten.

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