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Idylle in Kreuzberg: In der Berliner Kita „Girotondo“ können die Kinder mit der Kita-Leiterin Lotte Althoff-Cercola und ihren Kollegen nicht nur toben, sondern auch Deutsch und Italienisch sprechen. Bei der Ausstattung legt die Kita Wert auf Qualität. Dennoch war die Einrichtung mit Umweltgiften belastet.

© Mike Wolff

Umweltgifte: Wenn Spielen krank macht

Umweltschützer warnen: In vielen Kitas stecken gefährliche Weichmacher und Bisphenol A. Auch Kassenbons und Fahrkarten enthalten schädliche Stoffe.

Die Kita „Girotondo“ im Berliner Graefe-Kiez ist eine Vorzeigekita. Die Kinder sprechen Deutsch und Italienisch, die Gruppen sind klein, es gibt genügend Personal, und die Räume sind hell und freundlich. Auch an der Ausstattung ist nicht gespart worden. Die Kita ist mit teuren Tretford-Böden und Linoleum ausgelegt, die Spielgeräte und Möbel stammen von Wehrfritz, einem etablierten Kita-Einrichter aus Oberfranken. Doch dann kam der Schock: Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), der den Hausstaub der Kita auf gefährliche Weichmacher (Phthalate) untersucht hatte, stellte fest, dass die Werte in der Kita erhöht waren. „Wir waren erschrocken“, sagt Kita-Leiterin Lotte Althoff-Cercola. Die Quelle des Übels war schnell gefunden: Die Bezüge der Matten, auf denen die Kinder turnen und schlafen, waren mit dem Weichmacher DINP belastet. „Der Bezug der Matte bestand zu 44,2 Prozent aus dem Schadstoff“, berichtet Sarah Häuser, Chemieexpertin des BUND.

HOHE BELASTUNG

„Girotondo“ ist kein Einzelfall. Glaubt man dem BUND, stecken in nahezu allen Kitas Schadstoffe – die meisten wissen es nur nicht. Es sei denn, sie haben sich testen lassen. Über 200 Kindertagesstätten hat die Umweltschutzorganisation in den vergangenen Monaten auf sechs verschiedene Phthalate hin überprüft. „Im Schnitt waren die Einrichtungen drei Mal so hoch belastet wie normale Haushalte“, fasst BUND-Mitarbeiterin Häuser die Ergebnisse zusammen. 107 Kindergärten wurden zudem auf Bisphenol A (BPA) untersucht. Auch hier wurden die Prüfer fündig. „In 92 Kitas konnten wir den Stoff nachweisen“, berichtet Häuser. Sowohl BPA als auch Phthalate wirken hormonell. Sie können dafür sorgen, dass die Pubertät zu früh einsetzt oder dass Jungen unfruchtbar werden. Weichmacher stehen darüber hinaus in dem Verdacht, Atemwegsprobleme wie Asthma zu verstärken. Kinder sind beiden Stoffen regelmäßig ausgesetzt. Untersuchungen des Umweltbundesamtes (Uba) haben sowohl BPA als auch Phthalate im Urin von Kindern nachgewiesen.

BISPHENOL A

BPA wird in zahlreichen Alltagsprodukten wie Konservendosen und Plastikgeschirr eingesetzt. Auch Kassenbons, Parktickets oder Fahrkarten aus Thermopapier enthalten diesen Stoff. In sieben von acht Einkaufsquittungen fand Greenpeace kürzlich BPA oder das verwandte Bisphenol S. „Die nachgewiesenen Mengen überschritten teilweise den Tagesrichtwert, den ein schlanker Erwachsener laut Europäischer Behörde für Lebensmittelsicherheit aufnehmen sollte“, warnt Greenpeace. Dazu muss man wissen, dass die Efsa, die europäische Lebensmittelbehörde, 2007 den Wert für die tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI) um das Fünffache auf 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht heraufgesetzt und diesen Wert 2010 noch einmal bestätigt hatte. In der Wissenschaft ist das jedoch umstritten. Einige Forscher fordern einen TDI von maximal 0,025 Mikrogramm pro Körpergewicht. Hinzu kommt: Bei Tests mit BPA haben Tiere Missbildungen entwickelt. „Es besteht Forschungsbedarf“, sagt Elke Mayer vom Bundesumweltministerium, weist aber darauf hin, dass die Ergebnisse der Tierversuche nicht direkt auf den Menschen übertragen werden können.

Aus „Vorsorgegründen“ dürfen seit diesem Juni Babyfläschchen kein BPA mehr enthalten, weitergehende Schritte sind aber vorerst nicht geplant.

Michael Angrick vom Uba sorgt sich vor allem um das Wasser. „In der Nähe von Papierrecyclingfabriken hat man erhöhte Konzentrationen von BPA gefunden“, berichtet der Wissenschaftler. Dieses löst sich von den Kassenbons und Fahrkarten, die recycelt werden. Sein Tipp: „Werfen Sie Tickets in die Restmülltonne, damit sie verbrannt werden.“

WEICHMACHER

Jedes Jahr werden rund eine Million Tonnen Weichmacher in Westeuropa verarbeitet. Die Phthalate stecken in Fußböden, Kunstlederbezügen, Verpackungen, aber auch in Regenklamotten oder Turnmatten. Im Spielzeug sind die Stoffe inzwischen verboten. Für Phthalate gelten unterschiedliche Grenzwerte, allerdings gibt es nicht für alle Stoffe Festlegungen. Das Problem: Weichmacher mit dem gleichen Wirkungsmodus, die etwa die Fortpflanzungsfähigkeit von Jungen beeinträchtigen können, wirken additiv, verstärken sich also. Die Wissenschaftler vom Uba sind alarmiert. 2007 hatte die Behörde den Urin von Kindern untersuchen lassen. Berücksichtige man das mögliche Zusammenwirken mehrerer Weichmacher, würden „zwischen 50 und 80 Prozent der Kinder“ schon heute mehr Phthalate zu sich nehmen, „als aus heutiger Sicht empfehlenswert erscheint“, warnt Marike Kolossa-Gehring vom Uba.

Vor diesem Hintergrund sind die neuen Funde des BUND in den Kitas bedenklich. Zudem seien die gemessenen Werte teilweise sehr hoch, sagt Detlef Wölfle vom Bundesinstitut für Risikobewertung. Zwar könne man vom Hausstaub nicht unmittelbar auf die Belastung des Organismus schließen, dennoch sei es ratsam, die Belastung zu reduzieren, mahnt der Toxikologe.

In der Kita „Girotondo“ reagierten Eltern und Erzieher schnell. Sie zogen Bezüge auf die Matten, um das Austreten der Phthalate zu verhindern und die Zeit bis zur Lieferung neuer Matten zu überbrücken. Wibke Bergemann, Vorstand des Trägervereins, ist im Nachhinein froh über die Aktion: „Gut, dass wir das jetzt herausgefunden haben.“

Kitas, die ihren Hausstaub auf die Belastung mit Weichmachern testen lassen wollen, können sich beim BUND unter www.bund.net oder telefonisch unter 030/ 27 58 64 23 informieren. Die Untersuchung kostet 120 Euro.

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