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Wirtschaft: Geb. 1908

Als die Güterzüge vorbeifuhren und Hände durch die Schlitze winkten, sagte sie: „Das hast du nicht gesehen, du lügst!“ Sie trug die Vergangenheit begraben in sich, sie wich den drängenden Fragen ihrer drei Töchter aus: „Wie ist das gewesen?

Als die Güterzüge vorbeifuhren und Hände durch die Schlitze winkten, sagte sie: „Das hast du nicht gesehen, du lügst!“

Sie trug die Vergangenheit begraben in sich, sie wich den drängenden Fragen ihrer drei Töchter aus: „Wie ist das gewesen? Wie konnte das geschehen? Warum?“ Aber es gab nichts zu sagen, nur Ausflüchte, geschicktes Abblocken, Ausweichmanöver: „Hast du schon dein Zimmer aufgeräumt? Deine Hausaufgaben gemacht?“ Manchmal setzte es auch eine Ohrfeige, wie damals in Königsberg, als hinter dem Haus die Güterzüge fuhren und Tochter Elke plötzlich Hände durch die Schlitze winken sah und es aufgeregt ihrer Mutter erzählte. - Watsch, erst eine gescheuert, dann die Einflüsterung, „Das hast du nicht gesehen, du lügst!“ Aber sie hatte sie gesehen, die Hände. Auch die Hand der Mutter blieb unvergessen.

Gertrud Maria Frohner war in der Partei. Ihr Mann war in der Partei. Es waren viele in der Partei, auch jene, die nach Kriegsende zurück in ein ziviles, kommodes Leben gingen. Sie wussten eine Firma oder Abteilung zu leiten, waren studierte Juristen oder Prokuristen wie die alten Freunde und Kollegen des Ehemanns. Sie wurden mit der Bundesrepublik, der Währungsreform, dem Wirtschaftswunder und der neuen Verfassung, der Wiedervereinigung alt.

Nur er nicht. Dr. jur. J. Günther Frohner blieb immer jung, denn er verließ seine Familie jung. Er blieb der blendend aussehende Mann auf dem Bild an der Wand. Er war ein Held, denn obwohl zur „kriegswichtige Person“ erklärt und deshalb vom Dienst an der Waffe freigestellt, musste er dem Führer beistehen, den Endsieg erringen. Das war im Frühjahr 1945. Er meldet sich freiwillig und wird von seiner Frau, die mit dem dritten Kind schwanger ist, voll und ganz unterstützt, es muss so sein, es ist für Deutschland, es ist für den Führer.

Dann ist der Krieg zu Ende, und der Mann und Vater kommt nicht zurück. Er gilt als vermisst und wird erst 1953 für tot erklärt, was wichtig ist für die alleinerziehende Mutter, denn erst mit dem Tod auf dem Papier, werden Rentenansprüche fällig. Gertrud Frohner hat nicht wieder geheiratet, das wäre nicht rechtens gewesen. Sie zieht ihre Kinder allein groß, eine frühe allein erziehende Mutter.

Die Familie lebt zunächst zur Untermiete bei der Schwester Hildegard und deren Kindern in Glienicke. Es ist eng, zu viele Menschen leben in dem kleinen Haus, es kommt häufig zu Streitereien. Die Enge kann nur gemeistert werden, wenn absolute Ordnung herrscht, wenn alles seinen festen Platz hat, nichts herumsteht. Auch für Kinder, die neugierig sind, die etwas erleben möchten, die herumtollen und heimlich Zigaretten rauchen, die ihnen die Russen schenken, keine leichte Zeit.

Sie seien in „Liebe und Angst“ aufgewachsen, erzählen sie. Die Mutter tat alles für sie, versetzte die teuren Lederkoffer, die sie auf der Flucht von Königsberg nach Berlin mitnehmen konnte, war liebevoll zu ihnen. Dann wieder streng, sich aus heiterem Himmel über die Unordnung beschwerend, das Kissen auf dem Bett habe links zu liegen und nicht rechts, die Strümpfe müssten auf rechts gedreht zu sein, Kleiderbügel im Schrank immer gleich ausgerichtet. Denn bei einer Flucht entscheiden Sekunden.

Die Familie ohne Vater zieht um nach Frohnau. Die Kinder sollen im Westen zur Schule gehen. Wieder zur Untermiete. Der Mann des vermietenden Ehepaars wird Vormund der Kinder. Gertrud Frohner nimmt ihren Beruf als Stenotypistin wieder auf, hält Kontakte zu den alten Schulfreundinnen, zu ihrer jüngeren Schwester und deren Kindern im Osten. Die eigenen schickt sie in den Ferien zu alten Bekannten nach Bremen, Hamburg oder Oldenburg. Dort klingt zuweilen die Nazizeit nach: „Mach das jüdische Geseier aus!“, als im Radio Mahler gespielt wird. Es sind die fünfziger Jahre, das Wirtschaftswunder wird für viele zur größten Verdrängungsleistung ihrer jüngsten Vergangenheit.

Noch einmal zieht die Familie um, nun endgültig nach Tempelhof in eine 52 Quadratmeter große Wohnung, die Gertrud Frohner von da an über 40 Jahre bewohnen wird bis fast zum Schluss. Mit der hinzustoßenden Haushälterin teilen sich fünf Personen zweieinhalb Zimmer. Die Kinder, älter geworden, wollen nun wissen, stellen Fragen, aber die Mutter weicht aus. Sie hämmert auf die schweren Schreibmaschinen bei Siemens ein, kümmert sich um den Haushalt, erzieht die Töchter, versteht auch zu leben. Sie legt sich Schmuck zu und elegante Kleider, geht ins Theater, ins Konzert, reist viel.

Doch ihre moralischen Grundsätze bleiben ungebrochen. Sie konnte nie sagen: „Ich habe mich geirrt.“ Ihr Leben, das Leben der Familie war vergiftet, vergiftet durch die Nazizeit, durch die Unnachgiebigkeit einer zwangsläufigen Folge. Über ihre Haltung, ihr Schweigen verliert sie die Liebe ihrer Töchter. Sie gehen, als sie gehen können, als sie einundzwanzig Jahre alt und volljährig sind.

Gertrud Maria Frohner blieb hart bis zum Schluss, hart gegen die Fragen der Töchter, zurechtweisend gegenüber den Verwandten, aber vor allem hart gegen sich selbst. Sie wollte sich nicht helfen lassen – man lässt sich nicht helfen. Viele Menschen täuschte sie über die wahren Verhältnisse hinweg, über ihren Anteil an der Vergangenheit, über ihre spätere Sehschwäche auch, ihre körperliche Verfassung mit zunehmenden Alter, ihren Seelenzustand. „Es liegt nicht an den Zähnen!“, rief sie, als eine Pflegerin ihr das Gebiss aus dem Mund nehmen wollte, weil ihr beim Mittagessen im Heim schlecht geworden war. Dann kippte sie auf der Bettkante aufrecht sitzend zur Seite und war tot. Stephan Reisner

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