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Wirtschaft: Geb. 1908

Dora Münchehofe

Nein, sie sind keine Bauern, Dora und ihr Vater sind Gemüse-Großhändler. Noch nicht lange her, da hatte die Familie eine Möbeltischlerei.

Himmel und Menschen sind da, seit vier Uhr früh stehen die Tore offen. Von der Galerie blickt Dora hinunter auf die Obst- und Gemüsestände der Berliner Zentralmarkthalle an der Klosterstraße. Seit zwei Uhr ist sie auf den Beinen, sie ist munter. Überall wird Ware herangetragen. Die Bauern sind schon wieder zurück auf den Weg ins Umland. Schnauzbärtige Arbeiter sortieren Obstkisten und stapeln Lauch, Zucchini, Salate, Zwiebeln und Kohl. Die Ware wird per Hand gebracht, man bildet Ketten, so geht es schneller. Es ist laut, Rufe und Kommandos schallen durch den weiten Raum, Holzkisten ratschen über den Steinboden, ein Rollgitter rasselt. Draußen stehen die Pferde vor ihren Gespannen, das Maul im Hafersack versenkt.

Dora geht hinunter zum Stand des Vaters, der Handel beginnt. Bis zehn Uhr muss alles verkauft sein, dann rasseln die Gitter wieder hinunter. Kühlräume gibt es noch keine, auch keine Gabelstapler. Was übrig bleibt, wird Dora mit ihrem Vater auf einer Extratour vom Pferdewagen aus verkaufen. Sie fahren durch ganz Berlin. Der Vater ist erschöpft, seit mehr als zwölf Stunden ist er wach. „Kiek ma’, da kommt wieder der Bauer!“, ruft ein Ladenbesitzer. Bauer nennen sie den Vater, weil er nicht der Feingliedrigste ist. Jetzt hält er die Zügel noch in der Hand, aber sinkt schon in den ersten Schlaf. Dora springt vom Bock, wickelt den Händler um den kleinen Finger und verkauft die letzte Kiste Spinat. Nein, sie sind keine Bauern, Dora und ihr Vater sind Gemüse-Großhändler. Noch nicht lange her, da hatte die Familie eine Möbeltischlerei.

Die Markthalle, der „Bauch von Berlin“, ist ein guter Ort, um sein Glück zu suchen, damals, Anfang der dreißiger Jahre. Die Wirtschaftskrise hat Existenzen zerstört, hier beginnen viele neu.

Als die Familie noch die Möbeltischlerei hatte, lebte sie gutbürgerlich. Ein Sohn, der Bankkaufmann wird, Tochter Dora, die hinreißend Klavier spielt. Sie spielt so gut, dass die Passanten vor dem offenen Fenster stehen bleiben und gebannt zuhören. Momente des Glücks. Am besten, alles bliebe so. Aber die Möbeltischlerei geht verloren, fürs Klavier bleibt kaum mehr Zeit.

Der Neuanfang. „Zuerst brauchst du Mut, dann ein Pferd und einen Wagen“, sagt ein Freund. Die Erfahrung wächst mit den Fehlern und Rückschlägen. Dora macht ihrem Vater Mut: „Komm Papa, das schaffen wir!“ Sie ist jung, sie sieht gut aus, sie will etwas vom Leben. Auf Verehrer muss sie nicht warten. Aber der Richtige ist lange nicht dabei. Manch einer wird lästig, dann sagt sie, sie habe ihren alten Freund wiedergetroffen.

Schließlich aber trifft sie doch den Richtigen, und der ist gerade in Not. Albert Münchehofe ist auch Großhändler. Bei der Geburt des zweiten Kindes ist seine Frau gestorben, und nun steht der Witwer mit dem Säugling da und weiß nicht weiter. Dora hilft aus, ein halbes Jahr später, 1935, heiraten sie.

Es sind nicht ihre Kinder, aber sie liebt sie als wären sie’s. Gemeinsam mit dem Mann baut sie das Geschäft aus, sie haben sogar ein bisschen Land in Mecklenburg. Dann der Krieg. Nachts knallen die Bomben in die Stadt, immer dann, wenn Dora und Albert zur Zentralmarkthalle müssen. Dora bringt noch ein Kind zur Welt, dann ist der Krieg endlich vorbei. Doch Halle und Stand sind zerbombt, der älteste Sohn tot, die Ländereien bald enteignet. Zum zweiten Mal steht Dora Münchehofe vor dem Nichts. Was kann sie tun? Aufgeben? Niemals. „Komm Albert, das schaffen wir!“

Noch ein Neuanfang, wieder mit Obst und Gemüse. Und diesmal auch mit Erfahrung. Im Westen Berlins, in Lübars, Spandau und Gatow bauen die Bauern unermüdlich an. Albert gibt ihnen Ratschläge, was in welchen Mengen und wann zu guten Preisen zu verkaufen ist. Die Geschäfte kommen in Schwung, nicht nur für den Großhändler. Die Dinge werden überschaubar, man ist wieder wer, Kennedy besucht Berlin, und für Dora streckt sich die Zeit.

Im „Fruchthof“ an der Beusselstrasse beziehen die Münchehofes einen neuen Hallenplatz, die beiden Söhne wachsen selbstverständlich ins Geschäft hinein. Und Dora tritt langsam ihren langen Lebensabend an.

Sie hält die Familie zusammen, auch als die Söhne zu Konkurrenten werden, auch nachdem ihr Mann gestorben ist. Es gibt immer Gelegenheit zum Familientreffen. Muttertag, Hochzeitstag, Weihnachten, Pfingsten, Ostern. Und die Geburtstage, zum Beispiel Alberts hundertsten – auch ohne ihn. Und jedes Jahr der eigene, groß mit allen Kindern und Enkeln im „Hotel Steglitz International“.

Sie betreut die zwei Mietshäuser der Familie, mit den Handwerkern handelt sie Modernisierungspläne aus. Die betagte Dame steigt mutig mit auf das Dach und inspiziert die Lage. Die Handwerker sind baff, nicht nur weil die Rechnungen pünktlich beglichen werden. Mit dieser Frau ist was los! Sie schicken der Bauherrin riesige Blumensträuße.

Dann die große Operation am gebrochenen Halswirbel. Dora schafft auch das, sie ist jetzt neunzig. Den Haushalt in der alten Wohnung erledigt sie selbst. Niemand hat sie je im Morgenrock gesehen. Um acht Uhr sitzt sie längst adrett am Tisch.

Es naht der 95. Geburtstag. Sie beschreibt wie jedes Jahr die Einladungskarten mit Feder und Tinte, alles ist vorbereitet, dann wird auch sie zum ersten Mal müde. Sie feiern noch im engsten Kreis, der Urenkel ist dabei, sie freut sich. Dann schläft sie ein.

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