zum Hauptinhalt
So regungslos wie möglich verfolgte der ehemalige Präsident der Serben, Radovan Karadzic, die Verkündung seines Urteils vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.

© REUTERS

Urteil in Den Haag: Narzissmus und Größenwahn: Der Verurteilte Radovan Karadzic

Noch am Tag vor seiner Verurteilung zu 40 Jahren Haft dachte Karadzic an seine Freilassung. Ein Portrait des serbischen Kriegsverbrechers von Srebrenica.

Von Caroline Fetscher

Auf seine Unschuld pochte der Mann bis zuletzt. „Ich weiß, was ich gewollt habe, ich weiß, was ich getan habe, sogar, was ich geträumt habe. Kein vernünftiges Gericht würde mich verurteilen, ganz gleich, wie viele bosnisch-serbische Amtsträger vor mir schon verurteilt wurden.“ So sprach der Untersuchungshäftling Radovan Karadzic noch am Mittwoch, am 23. März 2016, einen Tag vor dem Urteil in seinem Fall. Nein, kein Massenmörder sei er gewesen im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995, vielmehr ein Friedensstifter.

Von der Haftanstalt des Den Haager UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien aus hatte er dem Reporter Denis Dzidic vom Recherchenetzwerk BIRN in Sarajevo ein Interview gegeben, per E-Mail. Da schien der Mann davon überzeugt, dass er anderntags seine Koffer für die Reise in die Freiheit packen würde.

Katalog der grauenvollsten Verbrechen

War es Größenwahn, Renitenz oder schlichter Realitätsverlust? Auf alle Fälle hatte der Angeklagte sich massiv verschätzt. 40 Jahre Haft, lautet das Urteil, das Richter Kwon O-gon aus Südkorea am Nachmittag vor dem rappelvollen Saal 1 des Tribunals nahezu zwei Stunden lang mit ruhiger Stimme begründete. Schuldig, das Gericht hat keinen Zweifel. Erwiesen sah es die Mitverantwortung und Schuld des Angeklagten in vielen Punkten der Klageschrift: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Vergewaltigung, Deportationen, gewaltsame Vertreibung und Verfolgung von Bevölkerungsgruppen, Angriffe auf Zivilisten, Terror gegen Zivilbevölkerung, Geiselnahme von UN-Blauhelmen, Verstöße gegen das Kriegsrecht.

Die Liste der Taten ist lang, die Ausführungen zu ihnen sind es ebenso. In der geordneten Sphäre des Gerichtssaals verlas Richter Kwon O-gon Seite um Seite einen Katalog der grauenvollsten Verbrechen, deren elementares Ziel es war, die nicht-serbische Bevölkerung Bosniens – bosnische Muslime und Kroaten – gewaltsam aus ihren Wohnorten zu entfernen, um einen „ethnisch homogenen Staat“, so das Tribunal, zu errichten. Erwiesen sei es, dass Karadzic als Präsident der bosnischen Serben und oberster Befehlshaber der bosnisch-serbischen Armee sowie diverser Milizen und der Polizei volle Kenntnis der Verbrechen und deren Planung besaß, sie durch Propaganda ermutigt und angeheizt, sie teils befohlen, teils nichts gegen ihre Ausführung unternommen hatte.

Zumeist verfolgte der makellos gekleidete Angeklagte in Anzug und blau-weiß gestreifter Krawatte die Ausführungen mit erhobenem Kinn, leicht aufeinandergepressten Lippen und so regungslos, wie es ihm möglich war. Bisweilen flackerten seine Augenlider, manchmal zog er die Brauen zusammen, und ein Anflug von höhnischem Zweifel schien in seinen Zügen lesbar. Erst als er sich zur Verkündung des Urteils erheben sollte und mit jedem Satz klarer wurde, dass das Gericht seine Schuld erkennen und ihn nicht entlassen würde, wirkte der Blick des Angeklagten beinahe wehmütig, melancholisch. Genozid in Srebrenica, Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Ortschaften Sanski Most, Kljuc, Vlasenica, Prijedor, Zvornik, Bratunac und Foca, die Belagerung von Sarajewo – die Last der Schuld ist unwiderlegbar.

Wichtigstes Urteil eines internationalen Gerichts der Gegenwart

Hunderttausende im ehemaligen Jugoslawien und in aller Welt konnten die Urteilsverkündung über den Livestream des Tribunals verfolgen, für viele von ihnen wird der Moment des Schuldspruchs bittere Genugtuung bedeuten. Bei den jugoslawischen Zerfallskriegen verloren etwa 100.000 Menschen ihr Leben, die Mehrheit von ihnen muslimische Zivilisten.    

Nicht nur für sie dürfte das Urteil das bisher wichtigste sein, das an einem Internationalen Strafgerichtshof der Gegenwart gesprochen wurde. Dies umso mehr, als der Hauptangeklagte Ex-Jugoslawe Slobodan Milosevic, noch ehe ein Urteil gesprochen werden konnte, im Haager Gefängnis den Herztod starb, vor fast exakt zehn Jahren, am 11. März 2006.

Im Kern strebten der serbische Präsident Milosevic und der Präsident der bosnischen Serben, der bosnisch-serbische General Ratko Mladic, und Karadzic dasselbe an, nämlich die Beseitigung der muslimischen Bevölkerung aus dem Gebiet der „Republika Srpska“ auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina. Von einem „gemeinsamen, kriminellen Unternehmen“ spricht der Richter auch mit Bezug auf die Täter der bosnischen Serben,, „a joint criminal enterprise“ - er kürzt es nach einmaligem Nennen nur noch „JCE“ ab -, das alle Taten überwölbte.   

Ob der 70jährige Radovan Karadzic in seiner Zelle noch einmal darüber nachdenken wird, was er getan, gewollt, gedacht hat, als er die Taten beging, für die er verurteilt wurde, das weiß niemand. Klar aber ist die Sprache des Gerichts, das seit 2010, dem Beginn des Prozesses, 585 Zeugen im Fall Karadzic gehört hat, darunter 340 Zeugen der Anklage: Opfer von Kriegsverbrechen, UN-Blauhelmsoldaten, Berichterstatter, Politiker, Militärexperten, Experten für die Zerstörung von Kulturdenkmälern wie Andras Riedlmayer aus Harvard und viele mehr.     

Im einzelnen warf die Klageschrift, verlesen im März 2009, Karadzic in zwei Fällen Genozid vor, fünf Klagepunkte beziehen sich auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vier auf Verstöße gegen das Kriegsrecht.

14 Jahre Fahndung nach dem ehemaligen Psychiater Karadzic

Noch heute schmückt ein Mural des bizarren Dr. Dabic alias Karadzic diese Hauswand in Belgrad.
Noch heute schmückt ein Mural des bizarren Dr. Dabic alias Karadzic diese Hauswand in Belgrad.

© dpa

Karadzic, geboren am 19. Juni 1945 in der jugoslawischen Republik Montenegro, studierte Medizin und wirkte zunächst als Psychiater in Sarajewo, ehe er seinen Weg in die Politik suchte. Als eine der Zeuginnen der Anklage hatte Fatima Zaimovic gegen ihn ausgesagt, eine ehemalige Krankenschwester in der Kinderchirurgie am selben Hospital, an dem der Angeklagte einst als Psychiater Dienst tat. Sie berichtete von den über 150 Kindern, die während der 142 Tage und Nächte dauernden Belagerung von Sarajewo durch serbische Scharfschützen verwundet worden waren.

Zu der Zeit verantwortete der einstige Arzt längst die Attacken auf Zivilisten in der eingekesselten Stadt, die von Hilfsgütern, Lebensmitteln, Wasser, Strom und Gas abgeschnitten, Flakfeuer und Gewehrsalven aus den umliegenden Bergen ausgesetzt war. Bosnisch-serbische Einheiten, behauptete der Angeklagte, hätten nur auf „Provokationen“ muslimischer Schützen aus Sarajewo reagiert, denen es darum ging, die Serben als Aggressoren darzustellen – eine der typischen, mehrfach auch für andere Orte und Taten konstruierten Argumente der Verteidigung, die der Angeklagte, beraten von Rechtsbeiständen, selber übernommen hatte. In Einzelfällen habe es solche Provokationen gegeben, heißt es im Urteil. Sie geschahen zu dem Zweck, die internationale Gemeinschaft zum Intervenieren zu bringen. Doch die überwältigende Mehrheit der Taten, folgerten die Richter, ging auf das Konto bewaffneter bosnisch-serbischer Kräfte.  

Einschätzung der Richter zu Srebrenica lässt keine Zweifel

Im März 1992 war Karadzic Präsident des Nationalrats der Serbenrepublik geworden, im Dezember Präsident der gesamten Republik und etwa zeitgleich Oberbefehlshaber von deren Streitkräften, bis er nach Kriegsende, im Juli 1996, alle öffentlichen Ämter aufgab. Bei den Verhandlungen zum Abkommen von Dayton unter Federführung des US-Gesandten Richard Holbrooke, so erklärte Karadzic später auch gegenüber dem Tribunal, habe ihm dieser für den Ämterverzicht und den Rückzug aus der Öffentlichkeit Straffreiheit zugesichert. Beweisen konnte er das freilich nicht, und Holbrooke, der ein solches Versprechen juristisch gar nicht hätte geben können, lebt nicht mehr.

Nicht verfangen haben auch die zahlreichen Beteuerungen des Angeklagten, er habe keine Kenntnis von Gräueltaten oder deren Planung besessen. Insbesondere im Fall Srebrenica, dem Massaker an etwa 8000 bosnisch-muslimischen Jungen und Männern im Alter zwischen 15 und 70, wertete das Gericht kaum verschlüsselte Mitteilungen des Angeklagten an die Täter, die Militärs und Geheimdienstler vor Ort, als Einverständnis mit der Tat und daher Mitverantwortung für den Genozid in Srebrenica. Als Völkermord war das Massaker vom Tribunal erstmals im Verfahren gegen General Radislav Krstic eingestuft worden. „Systematisch“, „intentional“, „exakt geplant“, „mit voller Absicht“, „zum Auslöschen der Bevölkerung“ – kein Wort fehlt in der Urteilsbegründung, das auch nur den kleinsten Zweifel daran lässt, wie die Richter die massenhaften Morde auf den Killing Fields von Srebrenica einstufen.

Auch der Versuch des Angeklagten, die Geiselnahme von 33 UN-Blauhelmsoldaten im Mai 1995 zu rechtfertigen, misslang. Karadzic argumentierte, die Blauhelme seien „Kriegspartei“ gewesen, und daher habe seine Armee sie berechtigterweise festhalten dürfen. Tatsächlich waren sie neutral und dienten dazu, der Nato eine Waffenpause abzuzwingen.

Vom Kriegstreiber zum bizarren Heil-Guru Dr. Dabic

Zwei Monate darauf, im Juli 1995, hatte das UN-Tribunal bereits Anklage gegen Karadzic erhoben. Doch der Mann blieb nach den Dayton-Verhandlungen zunächst auf freiem Fuß und verschwand im Untergrund, als er es sich mit seinen Bundesgenossen von einst verscherzt hatte. 14 Jahre lebte er unbehelligt weiter, solange waren die Chefankläger des UN-Tribunals ihm auf der Spur, irritiert von Gerüchten und Verschwörungstheorien: Ausland, Inland, Tod?

Dann tauchte im Mai 2008 in Serbien eine bizarre Gestalt auf, ein verschrobener Dr. Dabic, mit weißem Vollbart und grauem Pferdeschwanz, eine Art Rasputin und esoterischer Sonderling mit Zaubermitteln im Gepäck. In einem Vorort von Belgrad hatte er als Heilpraktiker Meditationskurse gegeben, als Homöopath und Wunderheiler Tinkturen, Kräuter und Pillen verkauft, unter falschem Namen Bücher geschrieben und zahlreiche Anhänger gewonnen.

Verurteilt war er schon damals, als sein Inkognito aufflog – verurteilt zur Rückverwandlung in den von Interpol gesuchten Mann: Radovan Karadzic, den flamboyanten Bürokrat und mutmaßlichen Massenmörder.

In seinem Habit im bewohnten Untergrund hatte Karadzic offen zu seiner Rolle als narzisstischer Guru gefunden, die er zuvor in seiner ohnehin bizarren Personalunion von Psychiater, Lyriker und Kriegstreiber nur latent erfüllt hatte. Als Dr. Dabic hatte er sich selber auf eine Weise zur Kenntlichkeit entstellt. Er war zu sich gekommen. Damit war es nach seiner Enttarnung vorbei.

Seine Zelle wird vermutlich sein letzter Wohnort

Als Angeklagter verwandelte er sich zurück in den gefassten Anzugträger, als der er am Donnerstag zum letzten Mal vor seinen Richtern stand. Er bleibt jetzt solange in der Haager Haftanstalt, bis ein dauerhafter Platz für ihn in einem der Gefängnisse der Europäischen Union gefunden wird, die für den Strafvollzug mit Den Haag kooperieren. Dieser Platz wird, aller Voraussicht nach, sein letzter Wohnort bleiben.

In seiner Zelle wird man ihn allmählich vergessen. Doch die abertausenden Seiten mit Zeugenaussagen, Beweisen und Expertenberichten, die auch dieser große Prozess in Den Haag zur Geschichte Ex-Jugoslawiens produziert hat, werden nach und nach die Forscher kommender Generationen beschäftigen. Manche in der Region meinen, diese kostbaren Dokumente, dieses Archiv der Wahrheit, sei fast noch wichtiger, als die Prozesse selber.

Transkripte des Tribunals sämtlicher Prozesstage im Fall Karadzic: http://www.icty.org/en/content/karadzic-trial-hearing-list

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false