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Vorsicht Gefahrstelle: Sollten sich die Kartellvorwürfe gegen die Autoindustrie bewahrheiten, könnte das große Schaden anrichten.

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Verdacht der Kartellbildung der Autoindustrie: Wie groß ist der Schaden für Deutschland?

Die deutsche Autoindustrie soll jahrzehntelang ein Kartell gebildet haben. Welche Folgen hätte das? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Die deutsche Autoindustrie steht vor dem nächsten riesigen Skandal. Nach dem Bekanntwerden des Betrugs beim Dieselantrieb sind jetzt Berichte über jahrzehntelange Kartellabsprachen der fünf wichtigsten deutschen Autobauer bekannt geworden. Demnach stimmten sich Daimler, BMW, Audi, Porsche und VW seit Jahren zum Beispiel über die Technik zur Reinigung von Diesel ab.

Wie gravierend sind die Vorwürfe?

Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, wäre der Schaden, den man in Euro berechnen kann, wohl der geringste. Schwerer wögen die Verluste an Vertrauen und Glaubwürdigkeit, die die wichtigste deutsche Industriebranche mit 1,2 Millionen Beschäftigten zu verantworten hätte. Das wertvolle Label „Made in Germany“, das maßgeblich von den deutschen Premiumherstellern Daimler, BMW, Audi oder Porsche geprägt wird, wäre international beschädigt. Überdies wäre nach dem Dieselskandal ein weiterer Beweis dafür erbracht, dass die Autobranche in Deutschland nicht ausreichend reguliert und kontrolliert wird. Angefangen vom Bundesverkehrsministerium und dem ihm unterstellten Kraftfahrt-Bundesamt bis zu den Prüfern von Dekra und Tüv – alle hätten wissen und entdecken müssen, was nun den guten Ruf der deutschen Autoindustrie zu zerstören droht.

Welche Verdachtsmomente gibt es?

Die konkreten Vorwürfe gegen die Unternehmen klingen plausibel. Der Verdacht, dass sich die Hersteller über Jahre im großen Stil illegal abgesprochen haben, kam dem Bundeskartellamt im vergangenen Jahr offenbar nach Untersuchungen in einem ganz anderen Fall: dem Einkauf von Stahl durch die Autohersteller und ihre Lieferanten. Zwar äußert sich die Behörde nicht zu den jüngsten Meldungen. Auf Anfrage verweist das Amt aber explizit auf eine Razzia bei sechs Unternehmen am 23. Juni 2016. Bestätigt hatten die Durchsuchungen damals Daimler, BMW und VW sowie die Zulieferer Bosch und ZF. Daran seien 50 Mitarbeiter des Bundeskartellamtes unterstützt von Polizei und Bundeskriminalamt beteiligt gewesen, erklärte die Behörde. Bei diesen Durchsuchungen zu möglichen Stahl-Kartellen sollen die Ermittler an Unterlagen gelangt sein, die auf weitere kartellverdächtige Absprachen in den 90er Jahren etwa bei der Abgasreinigung hingewiesen hätten, schreibt der „Spiegel“. Auch das „Handelsblatt“ meldet entsprechende Absprachen. Demnach findet sich unter den von der Staatsanwaltschaft München II bei Durchsuchungen im VW-Konzern, in Wohnungen und bei der US-Kanzlei Jones Day beschlagnahmten Unterlagen eine Audi-Präsentation namens „Clean Diesel Strategie“ vom April 2010. Darin sei von einem „Commitment der deutschen Automobilhersteller auf Vorstandsebene“ die Rede. Dieses betreffe den Einbau kleinerer AdBlue-Tanks. Weil große Tanks teurer gewesen wären, sollen sich die Firmen auf kleinere geeinigt haben.

Wie teuer kann das nun für die Unternehmen werden?

Neben dem massiven Imageschaden wären auch die drohenden Kartellstrafen für die Konzerne äußerst schmerzhaft. Die Behörden könnten beim mutmaßlich größten Kartell der deutschen Wirtschaftsgeschichte im Extremfall Strafzahlungen von bis zu zehn Prozent des globalen Umsatzes der Konzerne verhängen. Das wären im Fall von Daimler gut 15 Milliarden Euro, bei BMW 9,4 Milliarden und für den Zwölf-Marken-Konzern Volkswagen, zu dem Audi und Porsche gehören, fast 22 Milliarden Euro – also etwa so viel, wie der Diesel-Skandal den Wolfsburger Konzern bis heute gekostet hat. Wäre es so, wie der „Spiegel“ schreibt, dass Volkswagen und Daimler sich 2016 selbst angezeigt hätten, um als Kronzeugen straffrei auszugehen, müsste am Ende die Frage beantwortet werden, wer zuerst kam und die anderen bei den Kartellbehörden angeschwärzt hat.

Die höchste Strafe, die die EU in Kartellverfahren bislang verhängt hat, traf auch die Fahrzeugbranche: Wegen jahre- langer Absprachen von Preisen und Märkten mussten die Lkw-Hersteller Daimler, DAF, Renault/Volvo und Iveco 2016 insgesamt 2,9 Milliarden Euro zahlen. Mit Ausnahme des Kronzeugen MAN – die VW-Tochter hatte das Kartell auffliegen lassen. Vor Jahren platzte ein Kartell der Zulieferer von Windschutzscheiben, Autofenstern und Schiebedächern, an dem allerdings kein deutsches Unternehmen beteiligt war. Die Strafe lag bei 1,4 Milliarden Euro.

Was macht die rechtliche Einordnung schwierig?

Absprachen unter Autoherstellern (und nicht nur diesen) und ihren Zulieferern sind normal, legal und an der Tagesordnung, solange damit nicht Preise koordiniert, Märkte aufgeteilt, Innovationen unterbunden oder bestimmte Geschäftsbeziehungen favorisiert oder sanktioniert werden. So gibt es allein beim Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) aktuell etwa 35 Arbeitskreise mit weiteren Untergruppen, in denen Hersteller und Zulieferer auf allen Ebenen Erfahrungen austauschen, über Kosten und Investitionen sprechen, über technische Standards diskutieren. Das Spektrum reicht von Abrechnungsmethoden bis zum Verkehrsmanagement. Ähnliche Arbeitskreise gibt es auch auf europäischer Ebene. All das ist legal und erwünscht. Die Konzerne, die am Markt als Wettbewerber auftreten, arbeiten auch hinter den Kulissen beim Einkauf, bei der Forschung und Entwicklung oder bei der technischen Standardisierung eng zusammen. So wollen BMW und Daimler ihre 2008 vereinbarte Kooperation bei der Beschaffung noch vertiefen.

Beide Autobauer kaufen gemeinsam Teile und Komponenten ein, die für die Unterscheidung ihrer Marken nicht relevant sind: Reifen, Sitzgestelle, Kühlmittelpumpen und Kleinteile wie Kabelbaumstecker. Ein anderes Beispiel ist die Elektromobilität. Hier verständigte sich die gesamte Branche auf einen gemeinsamen Stecker für die Ladekabel der E-Autos – sehr zur Freude des sauerländischen Herstellers Mennekes.

Die enge Zusammenarbeit zeigt, wie fließend die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verlaufen können. Es ist ein kurzer Weg vom gemeinsamen Einkauf eines Ad-Blue-Tanks, in dem die Harnstofflösung für die Diesel-Abgasreinigung lagert, bis zur gemeinsamen Absprache über dessen Größe, Preis und den Lieferanten. Laut „Spiegel“ saßen die Kartellverdächtigen in 60 Arbeitsgruppen zusammen, die in fünf Jahren mehr als 1000 Mal tagten. 200 Mitarbeiter sollen involviert gewesen sein.

Welche Gesetzeslücken gibt es?

Begünstigt werden illegale Absprachen bei den Umweltstandards und der Abgasreinigung zusätzlich durch die lückenhafte Gesetzgebung und die laxe Aufsicht. „Die Gesetze und Verordnungen, die regeln sollen, wann die Emissionen eines Dieselmotors gereinigt werden müssen und wann nicht, sind schwammig und löchrig – das nutzen die Hersteller aus“, sagt Klaus Schreiner, Professor für Verbrennungsmotoren in Konstanz. Hinzu kommt der Verdacht, dass die Behörden der Industrie große Spielräume bei der technischen Umsetzung und Kontrolle lassen. „Im Zusammenhang mit dem Dieselskandal war die Politik bereits geprägt von einer Kultur des Wegschauens“, sagt Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management (CAM). Bei der Kontrolle der gesetzlichen Vorgaben fordert er „einen Quantensprung“ und bei Verstößen empfindliche Strafen.

Welche Folgen hätte das für den Diesel?

Natürlich kommen die Anschuldigungen angesichts der Diskussion über Diesel-Fahrverbote in Städten, Nachrüstungen von Diesel-Fahrzeugen und rückläufigen Diesel-Neuzulassungen aus Sicht der Unternehmen zur Unzeit. Eine gute Woche vor dem Diesel-Gipfel in Berlin, zu dem die Bundesregierung am 2. August eingeladen hat, stehen die Autobauer unter Druck wie noch nie. Ihre Schwäche könnte indes die Debatte darüber, wie die Branche ihr Umweltbewusstsein unter Beweis stellen kann, beschleunigen. Selbst VW-Chef Müller sagt inzwischen, es sei bei angemessenen Vorlaufzeiten durchaus vorstellbar, dass es einen verbindlichen Termin für den Ausstieg aus dem Diesel-Antrieb geben könne, sollte die Branche im Gegenzug Unterstützung bei der Elektromobilität bekommen. „Wir sind darüber im Gespräch mit der Politik.“ Es brauche ansonsten eine verbesserte Infrastruktur. „Jeder weiß, dass die Zukunft elektrisch fährt.“ Beim Diesel-Gipfel müsse es eine Lösung auf Bundesebene geben, die für alle Kunden verbindlich sei.

Wie reagieren die Finanzmärkte?

Die Aktien der betroffenen Autohersteller haben am Freitag Kursverluste verbucht. Gemessen am Absturz der VW-Aktie nach Bekanntwerden des Dieselbetrugs – minus 20 Prozent – war das aber harmlos. Bislang gibt es von den Unternehmen keine Stellungnahme zu den Vorwürfen, auch die Kartellbehörden haben nur die Prüfung der neuen Informationen zugesagt. Sollten sich die Berichte bestätigen und gar Kartellstrafen in der genannten Höhe im Raum stehen, wird die Börse aber sicherlich noch schärfer reagieren. Strafzahlungen sind Kosten, die auf den Gewinn der Konzerne drücken. Das schreckt Investoren ab. Schon in den vergangenen Monaten war an den Autoaktien abzulesen, dass die Anleger sich zurückhalten – aus Sorge, es könnten neue Hiobsbotschaften aus der Branche kommen.

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