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Frank Bsirske. „Noch in diesem Jahr werden die Weichen für die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns gestellt.“

© dpa

Verdi-Chef zum Mindestlohn: "Im Einzelhandel ist ein Großkonflikt wahrscheinlich"

In die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Bundesländer kommt Bewegung. Verdi-Chef Frank Bsirske gibt sich im Tagesspiegel-Interview optimistisch, dass es schon Ende dieser Woche einen Abschluss geben könnte.

Herr Bsirske, was sind die Lehrer wert?
Sie sind es allemal wert, anständig bezahlt zu werden. Deshalb wollen wir die Ära der einseitigen Festlegung von Eingruppierungen beenden. Die Arbeitgeberseite legt nach eigenem Gutdünken fest, welcher Gehaltsgruppe die angestellten Lehrkräfte angehören. Im Osten werden die Lehrerinnen und Lehrer eine Gruppe niedriger eingestuft als im Westen und in Sachsen sogar zwei Gruppen niedriger. Das ist zutiefst ungerecht.

In der vergangenen Tarifrunde haben Sie die Lehrereingruppierung nicht regeln können. Warum sollte es diesmal klappen?
Bereits im September und November vergangenen Jahres hat es Warnstreiks in Sachsen mit einigen zehntausend Lehrkräften gegen. Und in diesen Tagen protestieren bundesweit Lehrer gegen diese Ungerechtigkeit. Solche Aktionen registrieren die Arbeitgeber, zumal es in dieser Woche noch einmal eine deutliche Ausweitung der Warnstreiks gibt.

Es wird also in jedem Fall einen Tarif geben mit einer Regelung für die Lehrer?
Die Lehrkräfte haben sich in Bewegung gesetzt und uns und den Arbeitgebern mit ihren Warnstreiks gezeigt, was sie von diesen Tarifverhandlungen erwarten. Deshalb erwarte ich am kommenden Donnerstag auch ein Angebot, das die Lehrereingruppierung einbezieht.

Wenn die Lehrer nach den Vorstellungen der Gewerkschaften eingruppiert werden, macht das ungefähr ein Prozent zusätzlicher Kosten aus. Dieses Prozent können sie aber nur einmal ausgeben, es fehlt also bei der Tariferhöhung für den gesamten öffentlichen Dienst.
Nach unseren Berechnungen macht das im Durchschnitt 0,67 Prozent aus. Aber klar: Das ist kein vernachlässigbares Volumen. Selbstverständlich wollen die Arbeitgeber das verrechnen. Also müssen wir schauen, wie man die Schritte, die zusätzliche Kosten auslösen, strecken kann.

Die sächsische Landesregierung sträubt sich gegen eine Lösung für die Lehrer. Wird Sachsen deshalb ausgegliedert und nach dem Tarifabschluss separat verhandelt?
Eine Öffnungsklausel für Sachsen wäre denkbar. Ich glaube aber, dass die Tarifgemeinschaft der Länder eine Gesamtlösung bevorzugt. Wir werden sehen, wie sich die Arbeitgeberseite aufstellt.

Wie ist denn überhaupt die Aufstellung, nachdem mit dem Magdeburger Finanzminister Jens Bullerjahn zum ersten Mal seit langem wieder ein Sozialdemokrat die Verhandlungen auf der Seite der Arbeitgeber führt?
In keinem Punkt haben wir in zwei Verhandlungsrunden Bewegung bei den Arbeitgebern festgestellt. Das ist nicht akzeptabel, weshalb es ja auch die Reaktion der Lehrer und anderer Beschäftigter gibt. Je mehr Menschen sich an Warnstreiks beteiligen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir Ende der Woche in den Verhandlungen weiterkommen

Bullerjahn ist also nicht anders als sein CDU-Vorgänger Möllring?
Er verfolgt die Interessen der Arbeitgeber ebenso konsequent wie sein Vorgänger. Unterm Strich ist mir ein starker Verhandlungspartner lieber als ein schwacher.

Bsirske glaubt an baldigen Tarifabschluss.

Sie fordern neben der Lehrereingruppierung 6,5 Prozent, die IG Metall beschließt für ihre Leute in der Metallindustrie nur 5,5 Prozent. Schwächt das Ihre Position?
Der Abstand zwischen den Tarifeinkommen der Beschäftigten der Länder und den durchschnittlichen Tarifeinkommen in der Wirtschaft ist zwischen 2010 und 2012 größer geworden. Und der Vorsprung der öffentlich Bediensteten der Kommunen und des Bundes wird ab August 3,6 Prozent betragen. Diese Lücke muss geschlossen werden, sonst kriegen wir riesige Personalprobleme im öffentlichen Dienst der Länder. In Bremen etwa scheiden 45 Prozent des Personals bis 2020 altersbedingt aus. Das bekommen sie nur ersetzt, wenn anständig bezahlt wird. Die Konkurrenz um qualifizierten Nachwuchs wird größer; schon jetzt haben wir Lücken in diversen Bereichen.

Das Nachwuchsproblem erkennen die Arbeitgeber nicht?
Doch. Umso erstaunlicher ist aber, dass es bis jetzt keine Bewegung in den Tarifverhandlungen gibt. Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir wegen der Unterstützung der Warnstreikenden bis Ende der Woche zu einem Tarifabschluss kommen können.

Dann haben Sie die größte Baustelle in diesem Jahr abgeräumt.
Es geht ja weiter. Tarifverhandlungen stehen bei der Post an, im Versicherungsgewerbe und vor allem auch im Einzelhandel. Die Arbeitgeber haben bundesweit, mit der Ausnahme Hamburg, alle Tarifverträge für den Handel gekündigt.

Mit der Begründung, sie wollten den Flächentarif attraktiver machen.
Sie wollen das Tarifniveau reduzieren: Urlaub, Zuschläge, Arbeitszeit, Lohnhöhe – das ganze Spektrum soll verschlechtert werden. Das ist eine neue Qualität von Kampfansage und macht einen Großkonflikt wahrscheinlich. Vermutlich wird das unsere härteste Tarifrunde in diesem Jahr, es geht immerhin um drei Millionen Beschäftigte. Und die sind nicht bereit, eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen einfach hinzunehmen. Wie im Übrigen in der Gesellschaft insgesamt die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in einem riesigen Billiglohnsektor nicht mehr toleriert wird.

Ist deshalb jetzt auch die CDU für den Mindestlohn?
Bereits 2004 habe ich gesagt, dass beim Thema gesetzlicher Mindestlohn der Geist aus der Flasche ist. Jetzt ist er auch bei der CDU/CSU angekommen. 86 Prozent der Bevölkerung halten einen gesetzlichen Mindestlohn für notwendig. Das kann die Politik nicht ignorieren, nicht einmal die FDP. Ich bin sicher, dass noch in diesem Jahr die Weichen für die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns gestellt werden.

Dann gibt es also keinen Grund mehr, Angela Merkel nicht zu wählen.
Das muss jede Wählerin und jeder Wähler entscheiden. Unsere drei wichtigsten Themen sehe ich allerdings nicht ansatzweise von der jetzigen Bundesregierung abgearbeitet: Alterssicherung, Re-Regulierung des Arbeitsmarktes und Verteilungsgerechtigkeit in einem Land, in dem die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden.

Glauben Sie noch an Peer Steinbrück?
Der Wahlkampf beginnt erst, und bis zum Herbst kann viel passieren. Uns sind die Inhalte wichtig. Und wer am Ende auch immer Kanzlerin oder Kanzler ist: Wir wollen unsere Themen so platzieren, dass die Regierung nicht darüber hinweggehen kann. Wir wollen Einfluss nehmen auf die Beinfreiheit der Politiker.

Der Einfluss der Gewerkschaften hängt von ihrer Stärke ab. Aber anders als die IG Metall hat Verdi noch nicht die Wende bei der Mitgliederentwicklung geschafft.
Bei den Erwerbstätigen hatten wir 2012 bereits 32 000 Eintritte mehr als Austritte. Auch die aktuelle Entwicklung ist positiv: In der 6. Kalenderwoche hatten wir gut 2800 Eintritte, in der 7. Woche 2600 und in der 8. sogar 3900 neue Mitglieder.

Wie kommt's?
Die Menschen erkennen natürlich die Gefahr, wenn zum Beispiel im Handel alle Tarifverträge gekündigt werden. Tarifverträge schützen. Das Schutzniveau wird angegriffen durch die Kündigung, aber auch nach der Kündigung wirken die Tarifverträge für Gewerkschaftsmitglieder nach, sie behalten also ihre Gültigkeit. Und diesen Schutz suchen eben zum Beispiel viele Beschäftigte im Handel und treten deshalb bei.

Und mit denen wollen Sie dann im Herbst Kaufhäuser und Supermärkte bestreiken?
Die Beschäftigten tragen entscheidend dazu bei, dass wir den Angriff der Arbeitgeber abwehren können. Je mehr Mitlieder wir haben, desto größer ist die Chance, die Arbeitsbedingungen im Sinne der Beschäftigten zu gestalten. Das gilt für den Handel ebenso wie für den öffentlichen Dienst und jeden einzelnen Betrieb.

Karriere
Frank Bsirske (61) führt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi seit ihrer Gründung im Jahr 2001. Zuvor war er Chef der ÖTV, einer der fünf Organisationen, die sich zu Verdi fusionierten. Bsirske, in Helmstedt geboren, studierte Politikwissenschaften und arbeitete unter anderem als Personalreferent in Hannover.

Konflikt
Bsirske ist Verhandlungsführer der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Am Donnerstag kommen die Gespräche für die Beschäftigten der Bundesländer in die heiße Phase. Es geht um 6,5 Prozent mehr Geld und eine einheitliche Eingruppierung der Lehrer

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