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Wirtschaft: Verena Corvedell-Bruck

(Geb. 1948)||„Ich muss jetzt unbedingt ein Bad nehmen.“

„Ich muss jetzt unbedingt ein Bad nehmen.“ Das wäre genau ihre Szene gewesen. Verena schwebt, nein, sie rauscht herein. Mit schweifenden Bewegungen setzt sie sich auf den Drehhocker in der Mitte des Zimmers, schlägt die Beine übereinander, wirft den Schal über die Schulter. „Ach, hier geht’s um mich? Wie interessant!“

Mit ihrer warmen Altstimme und den großen blauen Augen zog sie die Leute in ihren Bann. Ihre langen Finger mit den knallroten Nägeln hatten etwas Krallenartiges.

Verena Corvedell-Bruck war Schauspielerin. Nicht von Beruf. Sie inszenierte ihr Leben. Ihre Bühne war überall.

Das Arbeitszimmer ihrer Freunde war eine angemessene Kulisse. Hinten der schwarze Flügel, daneben das Cello, an der Wand moderne Kunst. Auf dem Tisch ein großer Strauß roter Tulpen. In dieser Wohnung feierte sie ihre Feste. Die eigenen zwei Zimmer waren nicht repräsentativ genug.

Es konnte vorkommen, dass sie irgendwelche Leute in die Wohnung der Freunde einlud, ohne Vorankündigung, zum Beispiel zum Frühstück. Um zehn klingelte der Erste an der Tür, nach und nach trafen die anderen ein. Von Verena keine Spur. Die Freundin machte hektisch Frühstück für die unerwarteten Gäste, die da um ihren Wohnzimmertisch saßen und sich misstrauisch beäugten. Keiner kannte den anderen. Um elf griff sie zum Telefon: „Verena, du musst kommen, hier sitzen lauter Leute und warten auf dich!“

„Ja, ja, ich komme.“

Das konnte heißen, in einer Stunde, oder in zwei. Wenn sie dann kam, musste sie erst mal telefonieren, um ihre nächste Verabredung zu verschieben.

Verena war gefragt. Sie hatte einen großen Freundeskreis, häufig Menschen, auf die sie viel Einfluss nahm. Denn kaum jemand konnte sich in andere hineinversetzen wie sie. Die Atemtherapeutin liebte ihre gestressten Manager-Patienten ganz besonders. Denen konnte sie so viel beibringen. Sie mussten lernen zu entspannen und sich selbst überhaupt einmal wahrzunehmen.

Die Grenze zur Lebensberatung war fließend. Die meiste Zeit verbrachte Verena damit, die Probleme der anderen zu lösen. Ohne Bezahlung natürlich. Von Geld war in den Regieanweisungen nämlich keine Rede, da musste sie immer improvisieren.

Aber das konnte sie. Wenn Verena etwas machte, war es immer schön. Ihre Wohnung war klein, aber stilvoll. Eine heitere Welt aus Pastellfarben, Türkis, Rosé, Creme. Sie selbst sah umwerfend aus, aufwändig geschminkt, immer einen Tick schöner als die anderen. Dass ihre Kleider oft selbst genäht oder gebraucht gekauft waren, sah niemand. Alles musste perfekt sein. Sie ließ sich die Nase operieren, sie fand sie zu groß. Ihren Namen ließ sie ändern. Schmitz hörte sich kleinbürgerlich an. Verena Corvedell dagegen – ein Künstlername.

Mit 40 lernte sie Lothar kennen, einen gut aussehenden Psychoanalytiker. Sie ging mit ihm nach Freiburg und wurde nicht glücklich. Die Ehe war ein Desaster. Obwohl Lothar sie auf Händen trug. Wenn die beiden nach Berlin zu Besuch kamen, gab sie ihm als Erstes ihre Sachen zum Bügeln, sie selbst hatte Wichtigeres zu tun: „Ich muss jetzt unbedingt ein Bad nehmen.“ Die beiden Töchter ließ sie dann bei ihm und ging Freunde besuchen. Wenn sie in letzter Minute vor Abfahrt zurückkam, fragte sie nur: „Warum hast du den Kindern denn nicht die rosa Kleidchen angezogen?“ Auch die Kostüme der Nebendarsteller mussten stimmen. Mit Geld warf sie jetzt um sich. Auf einmal durften es nur noch edle Boutiquen sein, tausend Mark waren in zwei Stunden weg. Als die Ehe auseinanderging, häuften sich die Schulden. Verena bekam jetzt keinen Boden mehr unter die Füße, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Scheidungskrieg, Streitereien wegen jeder Woche Ferien, Gerichtstermine.

Überall ließ sie anschreiben, zu Hause stapelten sich drei Wäschekörbe gelber und blauer Briefe, ungeöffnet. Sie verlor ihre Wohnung – und kam von da an bei Leuten unter, die von ihr ebenso fasziniert waren wie ihre Berliner Freunde. Lange Zeit lebte sie bei einer 90-jährigen pflegebedürftigen Dame. Das bisschen Geld, das Verena nach deren Tod bekam, gab sie für die Beerdigung aus. In der Traueranzeige musste es diese spezielle Schriftart sein, weil allein die zu der alten Dame passte.

Eigentlich wollte Verena immer zurück nach Berlin. Sie machte Pläne. Ihre Freunde gründeten einen Solidaritätsfonds, um sie von ihren Schulden zu befreien. Eine Wohnung war auch schon gefunden. Doch Verena kam nicht.

Und dann gab es da noch eine chronische Krankheit, die man viel zu spät erkannt hatte. Ob sie die Medikamente regelmäßig einnahm, weiß niemand. Verena hatte die Gabe, in kürzester Zeit die Seele eines anderen Menschen zu ergründen. In sich selbst hineinhören konnte sie nicht so gut.

„Sie lebte vom Leben anderer, weil sie spürte, was andere spürten und lebten.“ So hieß es in der Trauerrede. Der Epilog zu einem tragischen Stück.

Sandra Stalinski

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