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Wirtschaft: Von Einheit keine Spur

Weil immer mehr Berufsgruppen ihre eigenen Verträge durchsetzen, wackelt das Tarifsystem. Manche halten es für gefährdet

Berlin – Ein kleine Beschäftigtengruppe blockiert die Bahn; in einigen Bereichen wie dem Einzelhandel liegen die Tarifparteien um Lichtjahre auseinander; die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst sind schon lange keine homogene Partei mehr und inzwischen holen die Gewerkschaften sogar den Staat zur Hilfe: Gesetzliche Mindestlöhne sollen da eingeführt werden, wo es keine oder nur erbärmliche Tarife gibt. Ist das über Jahrzehnte bewährte deutsche Tarifsystem am Ende? Reinhard Göhner muss das wissen. Der langjährige Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) ist einer der besten Kenner der Materie. „Es gibt besondere Herausforderungen für die Tarifautonomie“, sagt Göhner, „doch keine Krise des Systems.“

Gelassenheit auch auf der anderen Seite des Systems, beim DGB. „Man kann nicht von einer Bedrohung des deutschen Tarifsystems sprechen“, meint DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki auf Anfrage. Berufsorganisationen wie die der Ärzte, Piloten und Lokführer seien „Ergebnis einer Strategie zur Verfolgung von Einzelinteressen“, aber nicht Folge eines Rückgangs der Tarifbindung. Jörg Wiedemuth, Leiter der Tarifabteilung bei Verdi, ist da schon besorgter. Er spricht von einer „massiven Gefährdung des Tarifsystems“. In bestimmten Bereichen funktioniere das System „nicht mehr so, wie wir es gewohnt waren“.

Die Gefährdung kommt für ihn aber weniger von Separatisten, die plötzlich ihr eigenes Tarifsüppchen kochen. Wiedemuth ist vielmehr besorgt „über die Ausdehnung des Niedriglohnsektors und das Unterlaufen von Tarifstandards“. Am Ende, meint Detlef Wetzel, Vizechef der IG Metall, kommt es auf die Leute selbst an, was sie verdienen: „Gut organisierte Belegschaften haben gute Tarifverträge, schlecht organisierte werden schlechtere haben.“

In Diensten der IG Metall stand einst Wolfgang Schroeder, heute Professor in Kassel. Der Sozialwissenschaftler hat einen „Virus der Spaltung“ entdeckt, der womöglich von Lokführern und Ärzten auf andere überspringt. Laut Schroeder gibt es hierzulande 550 Arbeitnehmerorganisationen. Mindestens 300 davon könnten Tarifverträge abschließen. Mehr als die Hälfte der 300 stammt übrigens aus dem Organisationsbereich der Großgewerkschaft Verdi, die 1000 Berufe umfasst.

Wenn sich Branchen neu aufstellen oder gewerkschaftliche Strukturen ändern, ist die Gefahr am größten, dass neue Tarifparteien auftreten und das System zersplittert. „Es gibt schon eine Gefährdung, wenn der Eindruck verbreitet wird, man könne auch als kleine Gruppe viel rausholen“, sagt Schroeder. Dann wäre der Grundsatz der Tarifeinheit dahin und womögliche mehrere Gewerkschaften in einem Unternehmen kabbeln sich um die Beschäftigten und versuchen dabei, sich mit Tarifabschlüssen zu übertreffen. Siehe das Beispiel Bahn. Arbeitgeberchef Göhner hält es deshalb auch gut für möglich, dass irgendwann der Gesetzgeber eingreifen muss, um die Tarifeinheit, die bislang nur auf der Grundlage von Gerichtsurteilen steht, abzusichern.

Das gilt aber eher nicht für die Branchen, in denen starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeber agieren. Etwa in der Metallindustrie. Hier hat sich das Tarifsystem nach Göhners Einschätzung auch „in den konjunkturell schwierigen Jahren von 2001 bis 2006 bewährt“. Weil es in jener Zeit fast immer „moderate oder halbwegs moderate Tarifabschlüsse“ gegeben habe. Die Tarifverträge seien ferner offener und flexibler geworden, vor allem die IG Metall hat mit ihrem Pforzheimer Vertrag aus dem Jahre 2004 das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit der Firmen auf den Weltmärkten akzeptiert.

Das sieht IG Metall-Vize Wetzel genauso. Mit Pforzheim sei es gelungen, „das System der Flächentarifverträge zu stabilisieren“. In der Metallindustrie. DGB-Vorstand Matecki sieht dagegen besonders die teils prekäre Situation in Dienstleistungsberufen, wenn er eine „ergänzende Hilfestellung durch den Staat“ für die Bereiche fordert, in denen „die Kraft der Gewerkschaften nicht ausreicht oder wo sich Arbeitgeber weigern“ anständige Tarife aushandeln. Gemeint ist der gesetzliche Mindestlohn. Alfons Frese

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