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Staugefahr. Wer wie die meisten mit dem Auto pendelt, ist auf den Verkehrsfunk und starke Nerven angewiesen. Foto: ddp

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Wirtschaft: Von A nach B

Leben im Grünen, arbeiten in der Stadt. Wie das nicht zur Belastung wird.

Vor kurzem, als Jens Arbitter nach der Arbeit zuhause auf der Couch saß, klingelte sein Handy. Eine Kollegin schrieb: „Stehst du auch noch im Stau?“ Jeden Tag pendelt Jens Arbitter von einer Kleinstadt in der Pfalz nach Ludwigshafen, der 34-Jährige arbeitet dort im Sankt Marienkrankenhaus. An diesem Tag hatte er auf dem Nachhauseweg früh genug die Verkehrsdurchsage im Radio gehört – Vollsperrung auf der A 65 wegen eines Unfalls – und war eine Umleitung gefahren.

Auf dem Land wohnen und in der Stadt arbeiten sei ein klarer Trend, sagt Anette Haas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Gerade in ostdeutschen Gebieten findet Suburbanisierung statt, vor allem im Berliner Raum.“ Zwischen 1995 und 2010 verließen rund 454 000 Menschen Berlin, um im brandenburgischen Umland zu leben. Viele von ihnen arbeiten weiterhin in der Hauptstadt: 183 000 Berufstätige aus Brandenburg fahren jeden Tag zur Arbeit nach Berlin. Darunter auch 1700, die in der Uckermark leben – sie brauchen bis zu zwei Stunden, bis sie am Arbeitsplatz sind. Anette Haas sagt: „Das Häuschen mitten in der Peripherie ist nicht der Standard. In der Nähe von großen Städten wohnen Pendler eher im Speckgürtel, mit guter Anbindung ans Stadtzentrum.“

Der Arbeitsort von Jens Arbitter, Ludwigshafen, ist eine Pendlerstadt. Laut Beschäftigtenstatistik 2011 der Bundesagentur für Arbeit ist sie sogar unter den Top 10, gemessen an den Einpendlerquoten. Einpendler sind diejenigen, die für ihre Arbeit in eine Stadt fahren. Offenbach am Main liegt auf Platz eins, die Einpendlerquote liegt dort bei rund 71 Prozent. In Ludwigshafen sind es knapp 69 Prozent: 2011 gab es rund 92 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, knapp 63 000 dieser Beschäftigten wohnten nicht in Ludwigshafen. Jens Arbitter ist einer von ihnen.

Leben möchte Arbitter dort nicht. „Die Stadt ist nicht wirklich einladend“, sagt er. Lieber pendelt er: 50 Kilometer pro Stercke. Arbitter fährt mit dem Auto, so wie die meisten Pendler in Deutschland, rund 60 Prozent sagt das Statistische Bundesamt. Nur 13 Prozent nehmen öffentliche Verkehrsmittel.

38 Minuten, das ist die durchschnittliche Pendelzeit in Westeuropa. Jens Arbitter braucht genau so lang, er ist 30 bis 40 Minuten unterwegs. Wenn er Tagdienst hat, fährt er morgens um 6.50 Uhr los, auf der Fahrt hört er meist Radio. Verkehrsfunk, Nachrichten, Musik. Das Pendeln stört ihn nicht: „Auf der Autofahrt kann ich vergessen, was mich auf der Arbeit aufgeregt hat“, sagt Arbitter. Landau ist eine Kleinstadt in der Pfalz mit rund 44 000 Einwohnern. Arbitter lebt gerne dort. Die Stadt hat nette Kneipen und eine schöne Fußgängerzone, man ist schnell im Pfälzer Wald oder an einem der vielen Seen.

Die Nähe zur Natur ist auch Agnes Kindsmüller wichtig. Die 32-Jährige lebt in Seehausen am Staffelsee, ein bayerisches Dorf mit rund 2500 Einwohnern. Sechs bis acht Mal im Monat fährt sie nach München, dort arbeitet sie als Behindertenassistentin, betreut eine Rollstuhlfahrerin. 24 Stunden ist sie dann dort, manchmal hat sie auch zwei Tagesdienste am Stück. Dass sie knapp eine Stunde unterwegs ist, findet sie okay, „schließlich bin ich ja auch mindestens 24 Stunden dort.“ Eine Zeitlang ist sie nach Augsburg gependelt, weil sie dort eine Ausbildung zur Yogalehrerin gemacht hat. „Das war hart“, sagt Kindsmüller. Fast zwei Stunden brauchte sie, einfach. Anette Haas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt: „Es scheint eine Pendelbereitschaft zu geben, die liegt bei maximal 45 Minuten.“

Heutzutage müssen Arbeitnehmer flexibel sein, zeitlich und räumlich. Früher wurde das nur bei Höherqualifizierten vorausgesetzt, heute müssen auch Gering- und Mittelqualifizierte pendeln. Bereits 40 Prozent der Berufstätigen in Deutschland sind zirkulär oder residenziell mobil, heißt: Sie sind entweder Wochenendpendler, pendeln täglich mindestens eine Stunde zur Arbeit oder haben ihren Wohnort wegen des Berufs gewechselt. „Die Pendler“, sagt Anette Haas, „müssen immer weitere Strecken zurücklegen.“ Nur noch knapp die Hälfte der Berufspendler legt weniger als zehn Kilometer zurück, um zur Arbeit zu kommen. Dass das auch Nachteile haben kann, zeigt der aktuelle Fehlzeiten-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Durch die steigende Flexibilisierung stießen Arbeitnehmer an ihre psychischen Belastbarkeitsgrenzen, Erschöpfung und Niedergeschlagenheit seien die Folgen.

Unter den Fernpendlern, also denjenigen, die mindestens eine Stunde einfachen Arbeitsweg zurücklegen müssen, sind wesentlich mehr Männer als Frauen. Stefanie Kley, Soziologin an der Universität Hamburg, ist der Frage nachgegangen, wie sich Pendeln auf die Beziehung auswirkt. Kley verglich Fernpendler und andere Paare. Das Ergebnis: Wenn die Männer pendeln, hat das keine Auswirkung auf die Beziehung. Bei den Frauen ist der Anteil der Fernpendlerinnen zwar gering, aber „wenn Frauen pendeln, wirkt sich das sehr wohl auf die Beziehung aus“, sagt Kley.

Selbst wenn Agnes Kindsmüller weniger pendeln wollte, in München könnte sie nicht wohnen. „Dort eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist nicht einfach“, sagt sie. Der durchschnittliche Mietpreis in München liegt bei rund 14 Euro pro Quadratmeter, weit über dem deutschen Durchschnitt. Doch Kindsmüller lebt gerne auf dem Land, „man kann sich hier aufs Wesentliche konzentrieren“, sagt sie.

In Städten wie Ludwigshafen, wo die Mieten nicht wesentlich höher sind als auf dem Land, kann sich ein Umzug zum Arbeitsort lohnen. Derzeit muss Jens Arbitter jeden Monat 200 bis 250 Euro für Sprit bezahlen. „Wenn die Preise steigen“, sagt er, „dann müsste ich mir überlegen, ob ich nicht doch nach Ludwigshafen ziehe – oder zumindest näher ran.“

Manche Arbeitnehmer versuchen eine andere Lösung, sie arbeiten an einigen Tagen im Monat von Zuhause aus. „In der Forschung gab es einen Disput, inwieweit Telearbeit das Pendleraufkommen zurückgehen lässt“, sagt Anette Haas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Das Ergebnis war ziemlich ambivalent.“ Wenn jemand einen Tag in der Woche von Zuhause aus arbeitet, pendelt er weniger. Andererseits wird das bereits bei der Entscheidung, eine Stelle anzunehmen, berücksichtigt. So kann es sein, dass dadurch weitere Distanzen akzeptiert werden. Ob also durch Telearbeit das Pendelvolumen zurückgeht, lasse sich darum schwer bestimmen, sagt Haas.

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