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Brücke nach Asien. In Istanbul treffen zwei Kontinente und viele Kulturen zusammen. Der Islam – im Bild die Ortaköy-Moschee – ist die beherrschende Religion, aber bestimmt wird das Alltagsleben in der Türkei vor allem vom rasant wachsenden Wohlstand.

© picture alliance / dpa

Vor der Wahl: Türkei ist ein Tigerstaat am Bosporus

Am Sonntag wählt die Türkei. Weil die Wirtschaft bestens läuft, steht der Sieger quasi fest. Zwar ist das Land immer noch relativ arm, von einigen Wirtschaftskennziffern der Türkei können manche Euro-Länder dennoch nur träumen.

Blechteile scheppern, Schleifmaschinen kreischen, und Nusret Caliskan ist zufrieden. In der Autowerkstatt des Mittvierzigers in einem Vorort der türkischen Metropole Istanbul sind 25 Mitarbeiter voll beschäftigt. Ein Geselle rangiert ein weißes Cabrio rückwärts in die Werkhalle. Ein Stockwerk darüber hämmern drei Mann an einem Geländewagen, der nach einem Unfall instand gesetzt wird. In der Lackiererei trocknet ein frisch gespritztes Auto, und in der Wäscherei hantiert ein Lehrling mit der Poliermaschine. Die Werkstatt Caliskanlar kümmert sich nur um die Luxusmarken BMW, Mercedes und Landrover, doch der Betrieb brummt trotzdem. Und das in der Türkei, dem früheren Armenhaus am Rande Europas.

„In den letzten drei Jahren verkaufen sich diese Luxusautos so schnell, dass sie nur noch mit Wartezeit zu haben sind“, sagt Caliskan. Dabei sind Wagen dieser Kategorie wegen einer Sondersteuer in der Türkei deutlich teurer sind als etwa in Deutschland. Dennoch verkaufen sich Hunderttausend-Euro-Karossen schneller, als sie importiert werden können. „Das kommt einfach daher, dass die Nachfrage so groß ist“, sagt Caliskan. „Es kommt daher, dass es dem Land so gut geht.“

In den vergangenen Jahren hat die Türkei einen Wirtschaftsboom erlebt, der das Land grundlegend verändert hat – und der ein entscheidender Faktor bei den Parlamentswahlen am Sonntag sein wird. „Weiter Stabilität für weiteres Wachstum“, lautet der Wahlslogan der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die in den Umfragen zwischen 45 und 50 Prozent liegt, 20 Prozentpunkte vor der größten Oppositionspartei. Statt auf Islam setzt die religiös-konservative AKP auf Investitionen und Wachstum.

Seit dem Regierungsantritt der AKP Ende 2002 hat sich das türkische Bruttoinlandsprodukt verdreifacht, die Zahl der Autos auf türkischen Straßen hat sich verdoppelt. Die früher zeitweise dreistellige Inflation ist auf unter zehn Prozent gesunken, das Exportvolumen stieg von 36 auf 132 Milliarden Dollar im Jahr. Von einigen Wirtschaftskennziffern der Türkei können manche Euro-Länder nur träumen: Die Neuverschuldung liegt bei 2,8 Prozent, die Staatsverschuldung bei 42 Prozent. Noch vor Jahren als Hungerleider betrachtet, ist die Türkei heute Mitglied der G 20, der Gruppe der größten Industrie- und Schwellenländer.

Langsam, aber sicher entsteht so etwas wie eine bürgerliche Mittelschicht mit bescheidenem Wohlstand im Land. Im ersten Quartal des Jahres kauften die Türken 436 000 Kühlschränke, rund 100 000 mehr als im Vergleichszeitraum 2010. Für einige internationale Firmen – etwa Bosch-Siemens-Hausgeräte – ist die Türkei einer der wichtigsten Wachstumsmärkte.

Zwar ist die Türkei immer noch relativ arm: Das Pro-Kopf-Einkommen am Bosporus liegt bei 46 Prozent des EU-Durchschnitts. Auch gibt es Alarmsignale. So bereitet das hohe Leistungsbilanzdefizit Sorgen. Zudem kann der Arbeitsmarkt mit der Bevölkerungsentwicklung – von 2002 bis 2010 wuchs die Bevölkerung der Türkei um rund vier Millionen auf fast 74 Millionen Menschen – nicht mithalten; die Erwerbslosigkeit liegt bei elf Prozent. Ratenkauf sowie billige und leicht zu habende Kredite, die zum Teil spontan am Geldautomaten abgerufen werden können, verführen viele Türken dazu, sich zu verschulden.

Dennoch überwiegt bei vielen der Optimismus. Demoskopen ermitteln ein hohes Maß an Zustimmung für die Wirtschaftspolitik. Das dürfte der Regierung bei den Wahlen am Sonntag helfen, und das macht es für die Opposition schwer. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu kündigte an, eine von ihm geführte Regierung werde für ein jährliches Wirtschaftswachstum von sieben Prozent sorgen – um wenig später zu erfahren, dass es unter der Erdogan-Regierung im vergangenen Jahr fast neun Prozent waren.

Werkstatt-Besitzer Caliskan, dessen Name auf Deutsch „fleißig“ bedeutet, ist einer von vielen kleinen und mittelständischen Unternehmern, die von diesem Boom profitieren. Er hat sich vor fünf Jahren mit 13 Beschäftigten selbstständig gemacht, inzwischen hat sich seine Belegschaft verdoppelt. Erst vor drei Monaten hat er seinen Betrieb ausgebaut. Jetzt will er erneut erweitern und zusätzlich eine Autohandlung eröffnen.

Caliskan macht keinen Hehl daraus, dass er die AKP noch länger an der Regierung sehen will. Auch Automechaniker Ali, der bei Caliskan arbeitet, lobt die Erdogan-Partei. „Viel besser als vor zehn Jahren geht es mir heute, viel besser. Die Arbeitschancen, der Lebensstandard – alles viel besser als früher“, sagt er. Früher habe er vom eigenen Auto nicht einmal träumen können, erzählt Ali. Heute fährt er BMW.

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