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Wirtschaft: Wanted!

Feinmechaniker, die ihr Handwerk in der Schweiz gelernt haben, werden in den USA verzweifelt gesucht

Holyoke, Massachusetts – Vor zwei Jahren versuchte ein Headhunter, Robert Schrader für eine neue Stelle zu gewinnen, für die er bis ins ferne Florida umziehen sollte. Schrader lehnte ab, wechselte aber auf eigene Faust zu einem anderen Arbeitgeber, nachdem er dort eine Lohnerhöhung, Umzugskostenersatz und eine bessere Krankheitsabsicherung herausgeschlagen hat. Seitdem will ihn sein alter Boss mit aller Macht zurückholen. Schrader ist keiner der jungen Überflieger von der Business School. Streng genommen ist er Fabrikarbeiter und gehört damit zu einer Berufsgruppe, die in den vergangenen Jahren mehr Zeit auf den Arbeitsämtern als in der Werkshalle zugebracht hat. Dass es ihm nicht ähnlich erging, liegt an seiner besonderen Qualifikation als Präzisionsmechaniker.

Der Beruf entstand vor mehr als einhundert Jahren und entwickelte sich in Europa im Zusammenhang mit der industriellen Uhrenherstellung. Für die Massenproduktion von Uhrwerken wurden Maschinen gebaut, deren Zahnräder, Wellen und Schneidewerkzeuge in höchster Präzision kleine Bauteile fertigen konnten. Da die Schweizer seinerzeit führend auf dem Gebiet waren, ist der Beruf in den USA als „Swiss-style“-Mechaniker bekannt. Seit einiger Zeit nutzen vor allem die Hersteller winziger mechanischer Komponenten die Kenntnisse solcher Spezialisten.

Schrader ist derzeit bei der Firma Marox angestellt, die kleinste medizinische Implantate und Instrumente herstellt. Die Ausbildung der Fachleute ist äußerst langwierig, denn erst nach Jahren praktischer Arbeitserfahrung sind diese Mechaniker sicher in ihrem Handwerk. Bei nur wenigen Nachwuchskräften gehören Spezialisten wie Schrader inzwischen zur Facharbeiter-Elite in den USA. Selbst in Zeiten der Verlagerung von Stellen ins billige Ausland werden die Präzisions-Mechaniker von der US-Industrie mit Einstiegsprämien von mehreren Tausend Dollar umworben.

Für die US-Hersteller kommt dieser Mangel an Fachleuten inmitten des lang- ersehnten Aufschwungs mehr als ungelegen. Wer es jetzt nicht schafft, die dringend benötigten Fachkräfte anzuwerben, kann auf den umkämpften Weltmärkten schnell den Anschluss verlieren. Die Zahl der Wettbewerber, die sich die neuesten Präzisionsmaschinen leisten können, nimmt ständig zu. „Wer sich heute von der Konkurrenz absetzen will, schafft dies nur mit den besseren Spezialisten, die aus den Geräten das Meiste herausholen“, sagt Stephen Mandes, Geschäftsführer des Instituts für Metallverarbeitung. Einige Unternehmen müssen bereits Aufträge zurückweisen, weil ihnen das richtige Personal fehlt. Die kalifornische Firma Accu-Swiss Inc, die Metallteile für die Medizin und Rüstungsindustrie herstellt, hat aus Mangel an „Swiss-style“-Mechanikern in diesem Jahr bis zu 20 Prozent ihrer Aufträge eingebüßt, sagt Sohel Sareshwaia, Präsident des Unternehmens. Nach Meinung von Jerry Jasinowki, Vorstand der US-Produzenten-Vereinigung, dürfte es noch schlimmer kommen, wenn sich in den nächsten Jahren die Generation der Baby-Boomer aus dem Berufsleben zurückzieht: „Das Hauptthema für die Hersteller wird bald der Mangel an Fachkräften sein." Boston Centerless, ein Hersteller von Präzisionsteilen mit 106 Angestellten, hat gleich mehrere Headhunter angesetzt, um in diesem Jahr fünf der „Swiss-style"-Mechaniker einzustellen. Und mindestens zwei der Stellen sind immer noch nicht besetzt. Den Angestellten wurden 500-Dollar-Prämien versprochen, wenn ihre Empfehlung zu einer Neueinstellung führt.

In der Geschichte der Industrie ist die Flaute beim Personal nicht neu. Über das letzte Jahrhundert rekrutierten die amerikanischen Automobilbauer viele Werkzeugmacher aus Europa, um die freien Stellen zu füllen. Bereits lange zuvor waren vor allem Elektriker gefragt, als der elektrische Strom in die US-Fabriken Einzug hielt. Claudia Goldin kennt das Phänomen: Neue Technologien, sagt die Ökonomin von der Harvard-Universität, führen oft zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, was die Löhne der Fachkräfte in die Höhe treibt. Bleibt die Bezahlung dann über längere Zeit stabil, ergreifen immer mehr Menschen den Beruf und führen Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht. Über Jahre war die US-Wirtschaft ein Magnet für Auswanderer aus Europa, wo Arbeiter gezielt in Spezialberufen ausgebildet werden. Doch die Einkommensdifferenz, die Amerika einst so attraktiv machte, ist verschwunden. Gleichzeitig haben die US-Unternehmen ihre einst erfolgreichen Programme zur Lehrausbildung aus Kostengründen drastisch abgebaut. Mit den zunehmend computergesteuerten Präzisionsmaschinen lassen sich heute immer kleinere Bauteile produzieren. Die Anlagen können die Größe eines Kleinwagens haben. Im Inneren bewegen sich unzählige Werkzeuge, die das Endprodukt in die richtige Form bringen. In einigen Fällen passt die tägliche Produktionsausbeute einer solchen Anlage in eine Kaffeetasse. Den „Swiss-style"-Fachleuten werden besondere Mathematikkenntnisse und eine sehr hohe technische Auffassungsgabe abverlangt. Sie müssen die Werkzeuge aufeinander abstimmen und die komplexen Bewegungsabläufe überwachen. Junge Menschen mit solchen Fähigkeiten ziehen jedoch oft ein Ingenieurstudium an der Universität vor.

Schraders Arbeitgeber Marox würde ohne weiteres ein halbes Dutzend weiterer „Swiss-style"-Mechaniker einstellen - wenn es nur Bewerber gäbe. Manfred Rosenkranz, der Unternehmenschef mit deutschen Wurzeln, hat sogar schon die Anwerbung von Personal direkt aus der Schweiz erwogen. Aber Geschäftsfreunde in Europa machten ihm wenig Hoffnung, dass die Spezialisten nach Amerika gehen würden, um dort für eine kleine Firma zu arbeiten. Trotzdem wundert es den Marox-Produktionsleiter Michael Consolmagno, dass sich nicht mehr jüngere Leute für den Beruf begeistern können. Stattdessen steige das Durchschnittsalter in seiner Abteilung unaufhaltsam, sagt der 45-Jährige: „Wir kommen uns schon vor wie die Priesterschaft."

Timothy Aeppel

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