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Wirtschaft: Warum Städte Speck ansetzen dürfen

Nicht nur Menschen, sondern auch Städte setzen Speck an.Aber es ist eine andere Art von Speck: Beim Menschen geht es um Ablagerungen von nutzlosem Fettgewebe, bei der Stadt um Auslagerungen von wertvoller wirtschaftlicher Aktivität.

Nicht nur Menschen, sondern auch Städte setzen Speck an.Aber es ist eine andere Art von Speck: Beim Menschen geht es um Ablagerungen von nutzlosem Fettgewebe, bei der Stadt um Auslagerungen von wertvoller wirtschaftlicher Aktivität.Und die Gründe für den Speck sind andere: Der Mensch legt an Leibesumfang zu, weil er - gemessen an seinem meist stagnierenden Bedarf - zu viel Lebensmittel verschlingt; das Umland einer Stadt floriert, weil die wirtschaftliche Entwicklung im Stadtinnern an Grenzen stößt und sich einen geographischen Ausweg sucht.Beim Menschen ist ein Speckgürtel Zeichen der Krise, bei Stadtregionen ist er Zeichen des Wachstums.

So auch in Berlin.Was andere deutsche Großstädte wie Frankfurt oder Hamburg seit über vierzig Jahren erleben, das spielt sich seit dem Ende der DDR auch in der deutschen Hauptstadt ab: Unternehmen verlagern ihre wirtschaftliche Tätigkeit vom Stadtinnern in das Umland, neue Produktionsstätten werden vor allem in Gewerbegebieten mit verkehrsgünstiger Stadtrandlage errichtet, der einkommensstarke Mittelstand baut Eigenheime auf der grünen Wiese außerhalb der Stadtgrenzen.

Die Gründe für den Trend zum Umland liegen auf der Hand: niedrige Immobilienpreise bei kaum schlechterer, oft sogar besserer Einbindung in die interregionalen Verkehrsnetze.Ökonomisch heißt dies: Die Ballung wirtschaftlicher Aktivität im Zentrum sorgt dort für eine im Durchschnitt hohe Wertschöpfung pro Quadratmeter und damit für hohe Bodenpreise - so hoch, daß jene Teile der Wirtschaft auswandern, die relativ viel Boden brauchen und relativ wenig auf die Vorteile der Citynähe angewiesen sind.Dies sind heute vor allem das Verarbeitende Gewerbe, aber auch in dessen Gefolge eine Vielzahl produktionsbezogener Dienstleistungen, die im engen Verbund mit der Industrie arbeiten.Das Gefälle in der Abgabenbelastung tut dann oft noch ein übriges: Eine städtische Infrastruktur zu erhalten ist teuer, und die Bewohner des Umlands können in dieser Hinsicht sparen, ohne auf die Vorteile der nahen Urbanität zu verzichten.

In Berlin findet also eigentlich eine ganz normale Entwicklung statt - allerdings im Zeitraffertempo und mit einem besonders spektakulären Gefälle zwischen City und Umland.Denn das brandenburgische Umland der Stadt ist Teil der ehemaligen DDR, und es ist deshalb nach der Wende wirtschaftlich dort gestartet, wo sich fast alle Regionen Ostdeutschlands befanden: auf einem Bruchteil des Produktivitätsniveaus der alten Bundesrepublik und West-Berlins.Seither hat es einen steilen Aufstieg erlebt: In den Umlandgemeinden, die an das westliche Berlin grenzen, liegen die Arbeitslosenquoten weit unter dem Berliner Durchschnitt und noch weiter unter dem Durchschnitt Ostdeutschlands; und die in den letzten Jahren wachstumsstärksten Regionen Brandenburgs - Königs-Wusterhausen, Zossen, Nauen und Strausberg - finden sich alle im Berliner Umland, mit Wachstumsraten der Beschäftigung seit 1993 zwischen 15 und 26 Prozent.Nirgends in Ostdeutschland - auch nicht in Dresden - gibt es vergleichbare Ansiedlungserfolge.

Diese Erfolge gehen zu Lasten der Stadt, zumindest auf kurze Sicht: Ein guter Teil der Gewinne des Umlands zeigt sich in der Bilanz als Verlust - deutlich sichtbar an der überdurchschnittlichen Abnahme der Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe und einer Zunahme der Erwerbslosigkeit.Auf längere Sicht dürfte allerdings die Bilanz auch für die Stadt positiv ausfallen: Zum einen schafft erst eine weit ins Umland ausgreifende urbane Ballung die Voraussetzungen für eine ökonomisch sinnvolle, hochverdichtete Arbeitsteilung im Raum.Davon wird dann schließlich auch das wirtschaftliche Herz der Stadt profitieren.Zum anderen gibt der Standortwettbewerb mit dem Umland auch den Kommunalpolitikern hoffentlich jene Gestaltungskraft zurück, die sie im subventionierten und geschützten West-Berlin Stück für Stück verloren haben.Denn erst, wenn Kapital und Menschen abwandern, beginnt die ernstliche Suche nach Möglichkeiten der urbanen Erschließung und Regeneration.

Am schwierigsten könnte es dabei für das ehemalige Ost-Berlin werden, denn es kombiniert auf absehbare Zeit die schlechten Seiten zweier Welten: zu nahe an West-Berlin, um so preiswert zu sein wie das Umland, aber bereits zu weit entfernt vom wirtschaftlichen Herz der Hauptstadt, um sich in hochproduktive urbane Netzwerke einklinken zu können.Es droht ein Schicksal, wie man es von Washington her kennt: ein glanzvolles Regierungsviertel als Entrée zu einem Sanierungsgebiet - wahrlich eine Herausforderung für die Stadtpolitik.

KARL-HEINZ PAQUÉ

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