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Wirtschaft: Wer keine Lohnerhöhung bekommt, fühlt sich schlecht

Solange sich die meisten Industriearbeiter zurückerinnern können, gehört die Inflation zum Leben.Doch heute ist sie tot: Für Geschäftsleute, Verbraucher, Zentralbankiers und Investoren in den Industrieländern spielen Inflationsgefahren keine Rolle mehr.

Solange sich die meisten Industriearbeiter zurückerinnern können, gehört die Inflation zum Leben.Doch heute ist sie tot: Für Geschäftsleute, Verbraucher, Zentralbankiers und Investoren in den Industrieländern spielen Inflationsgefahren keine Rolle mehr.Die Verbraucherpreise sind im vergangenen Jahr in den Industrieländern kaum noch gestiegen.Die USA sind nahe am Nirwana der "Preisstabilität".In den vergangenen zwölf Monaten sind die Verbraucherpreise um gerade mal 1,7 Prozent gestiegen.

Daran wird sich mancher erst gewöhnen müssen."Inflation ist wie ein Rauschgift", sagte der deutsche Finanzminister Karl Schiller vor über 25 Jahren."Eine Zeitlang versetzt sie uns in Hochstimmung, verherrlicht die Welt und hilft uns, unsere Probleme zu vergessen."

Die Droge ist verschwunden, aber die meisten Menschen haben den Totalentzug noch nicht hinter sich.Die Inflation ist so allmählich verschwunden, daß die Menschen noch nicht realisiert haben, wie die Welt sich verändert.Und sie ändert sich.Eine Wirtschaft ohne Inflation bedeutet für die Arbeiter, daß sie sich an Gehaltserhöhungen gewöhnen müssen, die sehr klein aussehen, aber mehr wert sind als all die großen Sprünge der vergangenen Jahre.Das mag unbequem sein.Etwa die Hälfte der amerikanischen Arbeiter, die Robert Shiller, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Yale 1996 befragte, sagten, eine Gehaltserhöhung gebe ihnen "mehr Zufriedenheit im Beruf", auch wenn sich gleichzeitig die Preise um denselben Prozentsatz erhöhten.

Natürlich ist die Inflation nicht endgültig ausgestorben.Auch wenn Japan mit Deflation kämpft und die Inflationsrate in Westeuropa gegen Null tendiert, haben die Währungsabwertungen in Asien und Lateinamerika dort die inflationären Feuer wieder entfacht.In den Vereinigten Staaten könnte die erfreuliche Mischung aus niedriger Arbeitslosenquote und stabilem Wirtschaftswachstum noch eine Inflationsbeschleunigung anfachen; die meisten Zukunftsrechner erwarten in diesem Jahr eine höhere Inflationsrate als im vergangenen Jahr.Doch die weltweite Rezession und die Entschlossenheit der Zentralbank, die Inflation zu bekämpfen, machen einen erheblichen Anstieg der Inflationsrate unwahrscheinlich.

Inzwischen ist weithin anerkannt, daß hohe Inflationsraten die Wirtschaft dadurch schädigen können, daß sie die Märkte verzerren, das Vertrauen der Bürger in die Regierung untergraben und alle möglichen vergeblichen Bemühungen forcieren.Die Umfrage Shillers ergab, daß 84 Prozent der amerikanischen Bürger der Inflationsbekämpfung einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Bekämpfung des Drogenmißbrauchs oder der Verschlechterung der Schulen beimessen.Eine Rückkehr der Inflation wäre verheerend: Bei der letzten Überprüfung durch das Arbeitsministerium beinhalteten nur ein Fünftel der größeren Tarifverträge eine automatische Lohnangleichung an die Lebenshaltungskosten.Anfang der 80er Jahre waren es noch 60 Prozent der Tarifverträge in Amerika.Eine Verbreitung der Deflation wie in Japan, in der Preissenkungen eine Rezession verschlimmern, wäre allerdings genauso schmerzlich.Aber noch haben die Vereinigten Staaten keines von beidem.Dafür ein paar neue Probleme: Ohne Inflation kann die altmodische Vorstellung, ein junges Paar könne ein Haus kaufen und seine Hypothek mit immer größer werdenden Gehaltsschecks tilgen, schon bald eben so kurios erscheinen wie ein Telefon mit Wahlscheibe.Rentner, die ihre Rente mit Anleihen aufbessern wollen, werden bei Fälligkeit ihrer Papiere schockiert sein, wie auch die Zinssätze fallen, wenn die Inflation zurückgeht.

In einer Welt ohne Inflation wird es für die Unternehmer nicht mehr so einfach sein, die "Rekorde" zu erzielen, die in Zeiten ansteigender Inflationsraten fast garantiert waren.Auf der anderen Seite werden sie die großen Gewinner sein: Der Mangel an Inflation wird sich als Steuersenkung für die amerikanischen Unternehmer und Aktionäre herausstellen.Die amerikanische Zentralbank plant für Oktober eine internationale Konferenz, auf der Fragen erörtert werden sollen, an die in der Vergangenheit kein Gedanke verschwendet worden wäre: Gibt es so etwas wie eine zu niedrige Inflationsrate? Was geschieht, wenn die kurzfristigen Zinssätze - wie jetzt in Japan - so stark auf Null zugehen, daß sie sogar in Zeiten der Rezession nicht weiter sinken können? Zu Inflationszeiten empörten sich die Amerikaner oft über steigende Preise, sahen dagegen Lohnerhöhungen als wohlverdient an."Wenn ihr Lohn in Angleichung an die Lebenshaltungskosten erhöht wurde, sahen die Leute das nicht als Folge der Inflation an.Ihrer Meinung nach hatten sie die Lohnerhöhung verdient", sagt Richard Curtin, Professor an der Universität Michigan, der 20 Jahre das Verbraucherverhalten in Amerika studierte.

Und was geschieht ohne Inflation? Wenn die Preise stabil sind oder fallen, werden die Verbraucher das ihren Fähigkeiten zur Schnäppchenjagd zuschreiben, die mickrigen Gehaltserhöhungen dagegen als Beweis ansehen, daß die profitgierigen Chefs ihre Arbeiter ausbeuten."Die Menschen könnten das Gefühl haben, daß ihre Arbeit schlechter bewertet wird", meint Curtin.Eldar Shafir, Psychologe an der Universität Princeton, sagt, die Enttäuschung über Gehaltserhöhungen, die mäßig aussehen spiegele mehr als wirtschaftliches Unverständnis wider."Die Leute fühlen sich schlecht, wenn sie keine Gehaltserhöhung bekommen, auch wenn sie wissen, daß die Inflationsrate niedrig ist." Einige Wirtschaftswissenschaftler befürchten, daß noch schlimmere Probleme auftreten könnten: Ein Mangel an Inflation könnte zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote führen.In jeder Volkswirtschaft, so argumentieren sie, müßten die Löhne von Arbeitern gekürzt werden, weil ihre Fähigkeiten nicht länger gebraucht werden.Eine Kürzung des Stundenlohnes von 12.50 Dollar auf 12 Dollar in Zeiten ohne Inflation entspreche einer Lohnerhöhung von 12.50 Dollar auf 12.62 Dollar in einer Zeit, in der die Inflationsrate 5 Prozent beträgt.Diese Arbeiter würden sich zwar gegen eine Gehaltskürzung wehren, sich aber Gehaltserhöhungen fügen, die mit der Inflationsrate nicht mithielten.

Wenn es den Arbeitgebern in Zeiten geringer Inflation oder gar Deflation nicht erlaubt wird, die Löhne zu kürzen, warnen die Wirtschaftswissenschaftler, werden sie weniger Leute beschäftigen.Zwei Umstände könnten in der allerdings einen Anstieg der Arbeitslosenquote in Zeiten niedriger Inflation verhindern.Zum einen sind die Löhne heute differenzierter als früher.Die Arbeitgeber müssen nicht den Stundenlohn kürzen, sie können auch höhere Krankenversicherungsbeiträge auf die Schultern der Arbeiter laden oder Vergünstigungen streichen, wenn die Geschäfte schlecht laufen.Zum anderen können es sich die Arbeitgeber bei schnellem Produktivitätswachstum leisten, Lohnerhöhungen auch denen zu gewähren, die sie am wenigsten verdienen.In der Vergangenheit wurde Inflation oft als "die grausamste aller Steuern" beschrieben.Man stellte sich eine ältere Dame vor, deren Rente sich niemals änderte, während die Preise anstiegen.Aber die Inflation bürdet Unternehmern und Aktionären auch hohe Steuern auf.Das Ende der Inflation bewirkt das Gegenteil.Es führt zu einer "erheblichen Steuersenkung für Unternehmer", sagt der frühere Vizepräsident der Zentralbank, Alan Blinder.

Das Haushaltsbüro des Weißen Hauses schätzt, daß jedes Prozent, um das sich die Inflationsrate verringert, den Steuerzahlern, vor allem Unternehmern und Aktionären, in fünf Jahren etwa 100 Mrd.Dollar einspart.Das wird nicht reichen: "Die Geschäftswelt wird feststellen, daß der Wettbewerb die Preise schnell herunterdrückt", schneller als sie Gehälter und andere Kosten kürzen können, warnt der britische Wirtschaftswissenschaftler Roger Bootle, Autor des 1996 erschienenen Buches "Der Tod der Inflation".

DAVID WESSEL

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