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Wirtschaft: „Wir erleben eine neue Welle des Protektionismus“

EU-Kommissar Karel De Gucht über die schwindenden Chancen, zu einem globalen Handelsabkommen zu kommen.

Herr De Gucht, fühlen Sie sich wie ein Arzt, der auf Intensivstation einen Wiederbelebungsversuch unternimmt?

Sie meinen, die Welthandelsrunde sei quasi tot?

Ja. Und nun treffen Sie und Minister aus aller Welt am Sitz der Welthandelsorganisation zusammen, um das zu ändern.

Es wäre schön, wenn wir sagen könnten, alle Ärzte im Raum wollten die Welthandelsrunde wiederbeleben. Es gibt aber viele, die nicht mit dieser Absicht nach Genf reisen.

Warum treffen Sie sich überhaupt?

Beim G-20-Gipfel in Cannes Anfang November haben wir Europäer es geschafft, lebensverlängernde Maßnahmen für die Doha-Runde durchzusetzen. Die Schlusserklärung liest sich, als ob alle dahinterstünden. Das ist aber eine Fata Morgana. Eine volle Wiederaufnahme der Verhandlungen ist unmöglich. Wir hätten das gerne, stehen aber alleine damit.

Noch einmal: warum ein Ministertreffen?

Wichtig wäre, dass wir uns zumindest darauf verständigen können, wie es in den nächsten beiden Jahren weitergehen soll – eine Verhandlungsagenda sozusagen.

Worum geht es dabei?

Wir konzentrieren uns darauf, eigentlich schon erzielte Einigungen festzuzurren. Wir haben zum Beispiel versucht, die EU-Initiative „Alles außer Waffen“ auf die internationale Ebene zu übertragen. Entwicklungsländer dürften dann all ihre Produkte – außer Waffen natürlich – zollfrei und quotenfrei in andere Märkte exportieren. Aber auch damit stehen wir bisher allein. Manche wollen sich ihre Entwicklungsländer aussuchen. Wir haben auch vorgeschlagen, dass die Handelsregeln für Baumwolle, die die USA nach einem WTO-Schiedsspruch gegenüber Brasilien anwenden muss, auf den Baumwollgürtel in Afrika übertragen wird – Mali, Tschad, Burkina Faso und Benin. Aber auch hier gibt es noch keine Einigung.

Gibt es andere Themen, über die mit Aussicht auf Erfolg verhandelt werden kann?

Wir müssten dringend über die Subventionen im Industriebereich sprechen. Aber auch da bin ich nicht optimistisch. Es gibt schließlich genug Leute, die die Doha- Runde am liebsten beerdigen würden. Das wäre aber ein dramatischer Fehler.

Warum?

Dann gibt es überhaupt kein Forum mehr, um über diese wichtigen Fragen zu sprechen – vor allem angesichts der Tatsache, dass wir eine neue Welle des Protektionismus erleben.

Wie erklären Sie sich das?

In Krisenzeiten gibt es den natürlichen Reflex, sich selbst zu schützen. Aber das löst die Krise nicht, es verschlimmert sie nur. Die Antwort auf das, was wir zurzeit in China erleben, ist nicht Protektionismus. Viel wichtiger wäre es, Peking im Rahmen der WTO zu disziplinieren. Hätten wir 2008 die Doha-Runde abgeschlossen, würden wir sie längst umsetzen. Jetzt erleben wir die Nebenwirkungen dessen, dass wir uns damals nicht einig wurden.

In den USA scheint das Interesse an einem Abschluss besonders gering zu sein.

I
ch bin oft dort und höre, dass die Geschäftswelt denkt, sie habe durch Doha nichts zu gewinnen – obwohl angesehene Experten das Gegenteil behaupten. Aber selbst ein eindeutiger Fall kann ohne gute Anwälte nicht gewonnen werden – und die gibt es in den USA für diese Sache derzeit nicht. Das ist das größte Problem.

Der flämische Liberale Karel De Gucht saß in Belgiens Parlament und im Europaparlament, ehe er 2004 Außenminister und 2009 EU-Kommissar wurde. Das Interview führte Christopher Ziedler

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