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Fleißig und emsig, so sehen sich die Deutschen gern. Aber stimmt das überhaupt noch?

© dpa

Wirtschaftsmacht Deutschland: Der Mythos vom emsigen Deutschen

Emsig und pünktlich: Diesen Ruf genießt der deutsche Arbeiter noch immer. Doch Migranten, die in Deutschland arbeiten, empfinden das ganz anders. Und Studien zeigen: Mit dem deutschen Fleiß ist es schon lange nicht mehr weit her. Warum aber hält sich das Image so hartnäckig?

Das Selbstverständnis des deutschen Arbeiters hat Platz in vier Songzeilen. „Er backt das beste Brot, er braut das beste Bier, er baut die besten Autos, weil er schuftet wie ein Tier“, textete das Liedermacher-Duo Joint Venture in einem seiner Songs. Das Geheimnis deutscher Wertarbeit? Rackern bis zum Umfallen.

Auch im Ausland hat sich das Bild des schwer schuftenden Deutschen verfestigt. Vergangenen Sommer befragte das amerikanische PEW Research Center diverse Europäer, welches Bild sie von ihren Nachbarn hätten und egal ob Italiener, Briten, Tschechen, Spanier, Polen oder Franzosen, alle wählten die Deutschen zum emsigsten Volk.

Angesichts einer Fülle von medienwirksam aberkannten Doktortiteln und etlichen aus dem Ruder laufenden Großbauprojekten wie dem Flughafen BER, dem Bahnhof Stuttgart 21 oder der Hamburger Elbphilharmonie sorgen sich viele Deutsche nun jedoch um genau dieses Ansehen. Auch die Politik befindet sich in parteiübergreifender Aufregung. Nicht nur die Kanzlerin, auch der Grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann klagte jüngst: „Wir ruinieren doch mit solchen Desastern allmählich unseren Ruf als Ingenieurnation.“

Doch ist der Ruf wirklich in Gefahr? Oder ist es nicht vielleicht eher so, dass die Deutschen ihn schon lange gar nicht mehr verdienen? Wer mit Ausländern spricht, die hierzulande arbeiten, stellt immer wieder fest, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung gehörig auseinander klaffen.

„Pünktlich, fleißig, ordentlich“, das war das Klischee, mit dem er 1991 nach Berlin kam, sagt zum Beispiel Ljubomir Pilipovic, 51 Jahre alt, Serbe und seit zwölf Jahren Chef seiner eigenen Baufirma. Dieser Eindruck wurde damals jedoch schnell korrigiert: Nach einem Jahr auf dem Bau sei er von den anderen gemobbt worden, weil er das Wort Dienstbeginn als Dienstbeginn interpretierte. Wenn ein Job um halb acht losgehen sollte, war er um sieben da, um sich umzuziehen. Die deutschen Kollegen hingegen erschienen häufig erst um 7:30 Uhr – mit der „Bild“ unterm Arm und verschwanden erstmal auf dem Klo.

„Ich würde keinen Deutschen einstellen“, sagt er heute nur halb im Scherz. Natürlich gebe es Ausnahmen und an der Qualität deutscher Produkte sei nicht zu rütteln, aber die Mehrheit hierzulande mache Dienst nach Vorschrift und keinen Handschlag mehr. Er selbst habe anders als viele einheimische Kollegen in zehn Jahren keinen Tag gefehlt. „Grippe ist keine Krankheit, hat mein Ausbilder mir in meiner Jugend gesagt“, erklärt er. Wenn er das Wort Bandscheibenvorfall hört, verdreht er die Augen.

Auch Carlos Frevo, der in Brasilien geboren wurde und dessen Vater stolz auf seinen Mercedes war, hat sein Deutschlandbild in seinen neun Jahren hierzulande anpassen müssen. „Hier reden alle ständig von Pünktlichkeit, sind in diesem Punkt aber selbst total unzuverlässig“, sagt der 32-jährige Leiter eines Tanzstudios. Auch als besonders strebsam hat er die Deutschen nicht erfahren. Dass die Angestellten hierzulande so viele Rechte hätten, sei zwar prinzipiell eine gute Sache, doch viele würden das nur ausnutzen.

Wenn er hört, dass die Linken-Chefin Katja Kipping kürzlich wieder eine 30-Stunden-Woche forderte, muss er grinsen. „Wer zehnmal am Tag Zigarettenpause macht, arbeitet doch auf die Woche gerechnet schon heute nicht länger.“ Eine 36-jährige Umwelttechnikerin aus Spanien und eine 25-jährige angehende Juristin aus Kiew berichten ähnliches, wollen dann aber aus Sorge um ihren Arbeitsplatz lieber nicht zitiert werden.

Wenn all das stimmt, wieso ist das Bild vom fleißigen Deutschen dann immer noch so fest verankert in der internationalen Wahrnehmung? Um das zu verstehen, müssen wir uns anschauen, wie es überhaupt in die Welt kam.

„Das Ideal des Fleißes ist ein Selbstbild, das die Deutschen im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt haben“, sagt Sebastian Conrad, Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Eine ganze Reihe von Faktoren seien für diese Entwicklung ausschlaggebend gewesen. Der wichtigste dürfte die Industrialisierung gewesen sein, die mit der zunehmend maschinellen Arbeit eine verstärkte Taktung und Strukturierung der Arbeit notwendig machte. Die hiesige Arbeiterschaft reagierte darauf zuerst mit heftigem Widerstand. Doch als sich Deutschland – das noch gegen Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts zu Recht als Hersteller von billiger Massenware berüchtigt war – zur führenden Wirtschaftsnation aufschwang und sich der einst als Brandmarkung eingeführte Stempel „Made in Germany“ zum Qualitätssiegel wandelte, reklamierten auch die Arbeiter ihren Anteil am Erfolg.

Dass sie vor allem ihre harte Arbeit in den Fokus rückten, liegt nahe. „Wer Erfolg primär mit Fleiß erklärt, kann sich allen Anteil selbst zuschreiben und eventuell wichtige Rahmenbedingungen ausklammern“, sagt Conrad.

Parallel sorgte der Imperialismus dafür, das Ansehen von Fleiß und Effektivität zu steigern, weil beide als Gradmesser für Zivilisation galten. „Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich diese Selbstwahrnehmung dann so manifestiert, dass sogar Deutsche, die ins heute ebenfalls für sein Arbeitsethos bekannte Japan fuhren, der Meinung waren, die Japaner arbeiteten gar nicht“, sagt Conrad.

Dieses offen nach außen getragene Selbstbewusstsein sorgte in Kombination mit der stetig wachsenden Wirtschaftsmacht Deutschlands dafür, dass das Selbst- zum Fremdbild wurde.

Die gängige Definition von Fleiß ist nicht mehr zeitgemäß

Zurück ins Heute. Natürlich fiele es leicht, die oben zitierten Beobachtungen als unrepräsentativ abzutun, doch eine vor knapp vier Jahren groß angelegte Sinus-Studie ergab ähnliches: „In der Migrantenpopulation deutlich stärker ausgeprägt als in der autochthonen deutschen Bevölkerung ist die Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg“, heißt es dort.

Demnach seien 69 Prozent der Migranten der Meinung, dass sich jeder hocharbeiten kann, der sich anstrenge. In der Gesamtbevölkerung waren es nur 57 Prozent. Auch was die absolvierte Arbeitszeit angeht, liegt Deutschland nicht da, wo es sich gerne sieht. In den Tabellen von Eurostat rangiert das Land regelmäßig im Mittelfeld und klar hinter Großbritannien, Österreich oder Polen.

Eine vergangenen Herbst von der Oettinger-Brauerei in Auftrag gegebene Studie attestierte den Deutschen gar eine gespaltene Persönlichkeit: 90 Prozent der dafür Befragten sagten, dass Tugenden wie Zuverlässigkeit, Fleiß und Ordnung typisch deutsch seinen, allerdings erklärten 66 Prozent, sich selbst gar nicht als Deutsch zu empfinden und genauso viele gaben offen zu: „Die Deutschen sind gar nicht alle so ehrlich, pünktlich und gewissenhaft, wie man immer denkt.“

Sind die Deutschen also tatsächlich faul? Ja und nein, sagt der Historiker Conrad. Zwar stelle auch er fest, dass vor allem jüngere Generationen nicht mehr das klassische Idealbild hochhielten und auch seltener die Bereitschaft aufbrächten, Opfer zu bringen, damit es ihre Kinder einmal besser haben. Das sei aber nicht unbedingt Faulheit, sondern gehöre zu den klassischen Entwicklungen in einer postindustriellen Gesellschaft. „Zum einen besteht weniger materielle Not und damit Druck, die Dinge zu verbessern als noch zu Zeiten des Wirtschaftswunders, zum anderen aber ändert sich auch die Arbeitswelt“, sagt er.

Arbeit war früher stark räumlich und zeitlich definiert. Das trifft heute weniger zu, und erfordert deshalb auch weniger von dem klassischen Rhythmus, der landläufig mit Fleiß gleichgesetzt wird. Was dafür verstärkt gebraucht wird, sind Kreativität und Innovationskraft – und die lassen sich nun mal nicht am Fließband erzwingen.

Die Deutschen entsprechen also in der Tat nicht unbedingt dem Bild, das man im Ausland von ihnen hat. Allerdings gilt auch festzuhalten, dass selbst die kürzlich in der „Zeit“ unter der Überschrift „Faul und schlau!“ beschriebene Generation der nach 1980 Geborenen zwar in der Tat mehr Wert auf Freizeit und Familienleben legt, sich aber mitnichten vom Qualitätsdenken als solchem gelöst hat.

Auch eine Studie aus Frankreich gibt zu denken. Laut dem staatlichen Statistikamt arbeiten Franzosen kürzer als die Deutschen, sind aber produktiver. Im Jahr 2011 erwirtschaftete ein französischer Industriearbeiter demnach in einer Stunde 45,40 Euro, ein deutscher nur 42,30 Euro.

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich an einem Hochtechnologiestandort wie Deutschland also weniger die Frage, wie fleißig wir sind, sondern eher, ob unsere gängige Definition von Fleiß überhaupt noch zeitgemäß und in wie weit selbstaufopfernder Pflichterfüllung für die Produktion von Qualitätsarbeit überhaupt zwingend erforderlich ist.

Am Soundtrack dazu hat sich die Band "Wir sind Helden" schon mal versucht: „Wofür man morgens aus dem Bett fällt: Das ist Arbeit – Okay, das hab ich verstanden. Wer sein Abdomen sich zum Brett stählt: Das ist Arbeit – Aber das tut doch weh.“

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