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Wirtschaft: Zehn Jahre Deutsche Einheit (4): Touristen sollen den Aufschwung bringen

Am 3. Oktober jährt sich zum zehnten Mal der Tag der Deutschen Einheit.

Am 3. Oktober jährt sich zum zehnten Mal der Tag der Deutschen Einheit. An zehn Sonnabenden beschreiben Wirtschaftsredakteure des Tagesspiegel deutsche Orte, die Geschichte geschrieben haben. Nächste Woche: Der Berliner Gürtel setzt Speck an.

Das Gelände ist trostlos. Der Zugang wird durch Schlaglöcher erschwert, überall stehen Gebäude, die sich selbst überlassen und der Witterung preisgegeben sind. Unkraut vervollständigt das Bild. Bauschutt an jeder Ecke. Ausgestorben. Ein schier vergessener Ort.

Hoffnung keimt allein am Eingang. Ein Bau-Schild verrät, dass hier das "Hafendorf Classee" entstehen soll. Eine Anlage mit attraktiven Bungalows, Geschäften und allerlei anderem, das Urlauber zur Erholung hierher lockt. Doch bis dahin scheint es weit. Noch ist Fantasie gefragt, um sich vorzustellen, wie aus diesem toten Gelände einst ein einladendes Ferienparadies wachsen soll.

Aber Rechlin, eine 2400-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Müritz, direkt an der Mecklenburgischen Seenplatte, ist voller Zuversicht. Mit Recht: Es ist hier wunderschön. Die größtenteils noch unberührte Landschaft ist von Berlin und Hamburg gleichermaßen nur eineinhalb Autostunden entfernt. Ein Paradies für Erholungsuchende, fernab jeder Großstadthektik. Hinter dem Zauberwort Tourismus verbirgt sich ein Markt, den es zu erschließen gilt. Alle reden von der Ostseeküste, die zweifellos schön, aber auch ungleich teurer ist als die Müritz-Region. Salzwasser sei das einzige, was man den Urlaubern hier nicht bieten könne, sagt Burkhard Kalke, Leiter der Tourismus-Förderungsgesellschaft in Rechlin.

Andere haben gezeigt, dass man mit diesen Pfunden wuchern kann: Die zum Amt Rechlin gehörende Gemeinde Boek verfügt über ein echtes Touristenzentrum. Um einen durch ABM-Maßnahmen gestalteten Platz reihen sich ein Hotel, ein Reiterhof und ein Gutshaus, das zwei Museen und eine Gaststätte beherbergt. Weiter draußen am See befindet sich eine Ferienanlage mit Bungalowsiedlungen und einem Campingplatz.

Doch Rechlin hat schwer an den Bürden der Vergangenheit zu tragen. Immer wieder wollten die Einwohner etwas aus ihrem Nest machen, immer wieder wurden alle Pläne zunichte gemacht. 1917 wurde hier eine Lufterprobungsstelle für Flugzeuge gebaut. Zwischen 1933 und 1945 testeten die Nationalsozialisten hier ihre Kampfflugzeuge. Im Jahr 1912 zählte der Ort gerade 75 Einwohner, in den 30er Jahren waren es bis zu 4000. Rechlin erhielt zahlreiche neue Wohnsiedlungen und eine verbesserte Infrastruktur. Doch 1945 wurde die Lufterprobungsstelle durch schwere Bombenangriffe zerstört. Die erhaltenen Gebäude und Anlagen wurden fortan von der Roten Armee besetzt und genutzt. Die Stadt war durch die Präsenz der sowjetischen Truppen über vierzig Jahre lang geprägt. Nicht zuletzt dadurch, dass die Soldaten eine Mauer mitten durch die Stadt zogen, die die Rechliner von ihnen trennte.

Hauptarbeitgeber in der Region war seit 1948 die Schiffswerft Rechlin, die auf einem Teil des ehemaligen Erprobungsgeländes errichtet wurde. Jeder zweite Rechliner im berufsfähigen Alter war hier tätig. Nach der Wende wurde der Betrieb privatisiert. Doch der neue Besitzer hatte, wie sich nach wenigen Jahren herausstellte, von Schiffsbau keine Ahnung. Das war das Ende für die Werft. Der Konkurs des Unternehmens bedeutete zugleich Arbeitslosigkeit für halb Rechlin. Was von der Werft geblieben ist, ist die Ruine, auf der das "Hafendorf Classee" entstehen soll. So symbolisiert das Werftgelände nicht nur die Vergangenheit, sondern gibt auch die Marschrichtung für die Zukunft vor.

Der Umstrukturierungsprozess verläuft mühsam, schließlich musste man ganz unten beginnen. "Anfang der 90er Jahre war hier abgesehen von zwei Campingplätzen touristisch nichts los", sagt Kalke. Noch immer gibt es in Rechlin kein Hotel. Öffentliche Fördergelder werden in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau von Hotels nicht mehr vergeben. Begründung: Davon haben wir schon genug. Die Rechliner haben offenbar nicht rechtzeitig zugegriffen. Für den Müritz-Hof, ein altes Gutshaus, hat sich vor einigen Monaten zwar ein privater Investor gefunden, der das Gebäude sanieren und zum Hotel umfunktionieren möchte. Aber geschehen ist auf dem Gelände bislang noch nichts.

Schon einmal sollte ein Hotel entstehen, direkt am Seeufer. Die Pläne verliefen im Sand, weil sich die Vorstellungen des Bauherren nicht mit der Rechliner Realität vereinbaren ließen. Übernachtungen für bis zu 400 Mark lassen sich hier schlecht verkaufen. Ein anderes Beispiel ist der Neue Markt, ein Platz in Rechlin, der Touristen und Ansässige mit zahlreichen Geschäften anlocken sollte. Gebaut wurde auch, aber ein Großteil der Verkaufsfläche steht mittlerweile wieder leer. Das Konzept ging nicht auf: Exklusive Lädchen finden hier keine Resonanz. Der neue Bürgermeister Olaf Bauer (CDU) weiß noch nicht, was mit dem Platz in Zukunft geschehen soll. "Vielleicht haben Sie eine Idee", sagt er ratlos.

Nur zarte Pflänzchen lassen die Zukunft des Ortes erahnen: Jedes Jahr kommen mehr Gäste, jedes Jahr gibt es mehr Anbieter. In dieser Saison wurde eine neue Appartmentanlage eingeweiht. "Im Juli und August gibt es hier keine freien Betten mehr", so Kalke.

Das hat den Stuttgarter Reiseveranstalter Kuhnle Tours ermuntert, in Rechlin seine Zelte aufzuschlagen. Die Initiative für das "Hafendorf Classee" geht von ihm aus. Das Unternehmen gründete 1996 eine Niederlassung in Rechlin und ist hier vielfältig tätig, vom Bootsverleih bis hin zur eigenen Fertigung von Hausbooten, mit denen die Touristen die Müritz durchstreifen sollen. Für Infrastrukturmaßnahmen rund um das Classee-Projekt wurden vor wenigen Wochen die Fördergelder bewilligt. Mit dem Bau soll im Frühjahr 2001 begonnen werden. Kuhnle ist ein Glücksfall für Rechlin. Und ein Zeichen dafür, dass es bergauf geht.

Hoffnungen setzen die Rechliner auch in ihren neuen Bürgermeister. Olaf Bauer hat am vergangenen Donnerstag sein Amt angetreten. 1991 ist der ehemalige Stabsoffizier vom westdeutschen Limburg nach Rechlin versetzt worden. Seither lässt ihn der Ort nicht mehr los. Unermüdlich versucht er, den Aufschwung voranzutreiben. Und Erfolgsrezepte hat er auch parat: Beziehungen in den Westen knüpfen, dorthin, wo die Aufträge und die Gäste herkommen sollen, und, ganz wichtig, in kleinen Schritten denken.

Bauer hat sich viel vorgenommen, aber er ist nicht allein. Neben touristischen Einrichtungen haben sich inzwischen auch einige Betriebe aus dem produzierenden Gewerbe in Rechlin niedergelassen. Der Planenhersteller GSE beschäftigt 50 Personen, die Rechliner Niederlassung der Bremer Fassmer GmbH 25. Mit besonderem Stolz verweist der neue Bürgermeister auf die Fentek GmbH. Das sei ein Paradebeispiel für einen Rechliner, der es aus eigener Kraft geschafft habe. Harry Weiss, Geschäftsführer und Gründer des Unternehmens, beschäftigt 18 Mitarbeiter. Die Auftragslage ist so gut, dass er gerne noch mehr Menschen einstellen würde. Aber die Lagerkapazitäten sind begrenzt. "Ich will ausbauen", sagt der ehemalige Werftarbeiter Weiss, aber noch wurden ihm keine Fördermittel bewilligt. Harry Weiss hat klein angefangen.

Bürgermeister Bauer wird nicht müde zu betonen, dass gerade diese kleinen Schritte zählen. Vielleicht waren die Hoffnungen, die die Rechliner unmittelbar nach der Wende hegten, zu groß. Es kam kein reicher Onkel aus dem Westen, der den Geldbeutel zuckte und die blühenden Landschaften herbeizauberte. Gerade die jungen Leute hatten keinen Atem, auf Besserung zu warten. Sie finden hier keinen Arbeitsplatz und ziehen daher in die Städte. "Seit zwei Jahren haben wir Schwierigkeiten, in unserem Sportverein eine vollzählige Fußballmannschaft aufzustellen", sagt Tourismus-Chef Kalke.

Ganz aufgegeben haben die Rechliner ihren Traum vom großen West-Investor immer noch nicht. Olaf Bauer hält noch einen kleinen Trumpf in der Hand: Einen Flugplatz gibt es in Rechlin noch immer, er wurde nach der Wende in eine GmbH umgewandelt, deren Hauptgesellschafter Landkreis und Kommune sind. Auch wenn der Betrieb aufrechterhalten werden konnte, ist es bislang nicht gelungen, Investoren anzulocken. Das soll sich nun ändern. Der neue Betreiber des Flughafens heißt Matthias Stinnes und ist ein Nachfahre des Industriellen Hugo Stinnes. "Der Mann hat Weltbeziehungen", sagt Bauer mit Stolz und hofft, dass nun verstärkt aus dem Bereich Logistik Investoren nach Rechlin kommen.

Britta Rasmussen

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