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Wirtschaft: Zum Abschied nur ein leises Servus

NEW YORK .Der Anruf kam um 10.

NEW YORK .Der Anruf kam um 10.30 Uhr.Sein Boß wünsche ihn zu sehen, wurde dem 45 Jahre alten Händler von hochverzinslichen Anleihen mitgeteilt."Um 11 Uhr." Der Mann schaute unruhig aus dem Fenster des Handelsraums von Merrill Lynch, der größten Wertpapierhandelsfirma in Amerika.Überraschende Anrufe wie diese versprechen derzeit in New York schlechte Nachrichten.Um Punkt elf Uhr betrat der Händler das Büro seines Vorgesetzten.Um 11.10 Uhr war das Gespräch beendet: gefeuert - nach 20 Jahren bei Merrill Lynch.

Das Ende einer Karriere kommt schnell in diesen Tagen an Wall Street.1998 wird es zum ersten Mal seit 1994 für viele wieder heißen: Entlassung statt Bonus.Im vorigen Jahr verdiente der durchschnittliche Mitarbeiter im Investmentbanking zusätzlich zu seinem Basisgehalt von 100 000 bis 150 000 Dollar einen Bonus von 850 000 Dollar (1996: 700 000 Dollar).Selbst die schwächsten Mitarbeiter in den Teams bekamen ihren - wenn auch kleinen - Teil ab.In diesem Jahr beherrscht vielfach Bescheidenheit das Geschäft: Der Bonuspool ist um 18 Prozent auf rund zehn Mrd.Dollar geschrumpft.

Damit sind die Bankmitarbeiter noch einmal mit dem Schrecken davongekommen.Als die Wellen der Krise auf den Weltfinanzmärkten im Spätsommer schließlich auch über Amerika hereinbrachen, sah es deutlich düsterer aus.Seinerzeit war von deutlicheren Einschnitten bei den Bonuszahlungen die Rede - und von massiven Entlassungen.In New York, so hieß es, würden bis zu 50 000 Mitarbeiter auf die Straße gesetzt, in London bis zu 40 000.Ganz so schlimm kommt es nun nicht, seit sich die Märkte von den Wirren wieder erholt haben.

Gleichwohl fühlen sich die glücklich, die ihren Job behalten.Für viele in New York gilt es 1998 schon als ein Weihnachtsgeschenk, wenn sie nicht entlassen werden.Citigroup trennt sich von 10 400 Mitarbeitern, bei Merrill Lynch sind es 4300 Banker, bei Chase Manhattan werden es 4500 sein, und die Deutsche Bank hat nach der Übernahme von Bankers Trust bereits rund 5000 Entlassungen angekündigt."Die Banken nutzen die instabile Marktverfassung und die durch Fusionen hervorgerufene Konsolidierung im Bankgeschäft dazu, ihren Personalbestand besonders hart zu durchforsten", sagt ein Personalberater.

Die Situation dürfte dazu führen, daß sich ein bereits in den vergangenen Jahren zu beobachtender Trend mit steigender Deutlichkeit fortsetzt: Die Stars können sich ihrer Jobs sicher sein und werden mit mehr Geld denn je umworben.Die Mittelschicht der Angestellten kann sich bestenfalls über gleichbleibende Boni freuen.Doch wer nichts bringt - etwa, weil sein Geschäftsfeld gerade am Boden liegt -, der fliegt.

THOMAS KNIPP (HB)

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