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ZUR PERSON: „Die Menschen verstehen nicht, was sie unterschreiben“

Günter Hirsch schlichtet bei Streitigkeiten zwischen Kunden und Versicherern. Die Zahl der Beschwerden wächst – nicht erst seit den Skandalen um Ergo

JURIST

Günter Hirsch (68)

ist einer der renommiertesten Juristen Deutschlands. Er war Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, anschließend leitete er acht Jahre lang als

Präsident den Bundesgerichtshof in

Karlsruhe. Seit dem

1. April 2008 arbeitet Hirsch als Ombudsmann für Versicherungsfragen.

OMBUDSMANN

An den Versicherungsombudsmann mit Sitz in Berlin (www.versicherungsombudsmann.de) können sich Verbraucher bei Auseinandersetzungen mit ihrer Versicherung wenden. Das Verfahren ist für den Kunden kostenlos. Wer will, kann später noch klagen.

Herr Hirsch, Sexparties, falsche Riester-Abrechnungen, Probleme mit Betriebsrenten – die Ergo-Versicherung kommt nicht aus den Schlagzeilen. Bekommen Sie das auch zu spüren? Beschweren sich die Kunden bei Ihnen?

Es gibt keine Beschwerden, die sich gezielt darauf beziehen. Aber natürlich bekommen wir immer wieder Beschwerden, die mit dem Thema „Lustreisen der Vermittler auf Kosten der Kunden“ garniert sind. Etwa wenn sich jemand über die seiner Meinung nach zu niedrige Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung beklagt und schreibt, das Geld sei wohl statt auf die Konten der Kunden in die Finanzierung der Sexparties geflossen. Die Leute sind schon sauer, das merkt man.

Ergo will jetzt Konsequenzen aus den Affären ziehen. Alle Vertreter sollen unterschreiben, dass sie sich künftig integer verhalten. Aber ist das denn nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit?

Ja, natürlich. Aber es gibt viele Selbstverpflichtungen und Verhaltenskodexe, die eigentlich selbstverständliche Grundsätze oder Richtlinien aufschreiben. Solche Selbstverpflichtungen haben schon ihren Sinn: Sie rücken Dinge ins Bewusstsein, die man zwar eigentlich wissen müsste, die aber vielleicht nicht präsent genug sind.

Bei Ergo haben die Vertreter mehr an ihre Provisionen als an das Wohl der Kunden gedacht. Ist das ein Einzelfall oder begegnen Sie dem Problem häufiger?

Ich kann mich nur zu den Fällen äußern, die auf meinem Schreibtisch landen. Darunter gibt es sicherlich welche, bei denen es Hinweise gibt, dass die Beratung des Versicherers provisionsgesteuert war.

Was tun Sie dann?

Ich gehe dem nach und prüfe, ob sich der Verdacht belegen lässt. Aber gemessen an den 18 000 Beschwerden, die ich jedes Jahr bekomme, sind das nicht viele Fälle. Für die Grundsatzfrage Honorar- oder Provisionsberatung ist der Ombudsmann auch nicht der richtige Ansprechpartner. Um Erkenntnisse über etwaige Fehlanreize durch die Honorarberatung zu gewinnen, muss man die Praxis auf breiter Basis untersuchen. Zu mir kommen ja nur die pathologischen Fälle. 18 000 Beschwerden – das klingt viel, aber Sie dürfen nicht vergessen, in Deutschland gibt es 450 Millionen Versicherungsverträge. Da relativiert sich die Zahl der Beschwerden.

Können Kunden überhaupt erkennen, ob sie von ihrer Versicherung übers Ohr gehauen worden sind?

Ob einem die richtige Versicherung vermittelt wird, ist für den Kunden mitunter nur schwer erkennbar. Das ist ein Dilemma. Versicherungen sind sinnvoll, sie decken Lebensrisiken ab, aber sie sind hochkomplex. Das heißt: Der Einzelne kann oft nicht abschätzen, ob das Produkt passt, ob es für seine Bedürfnisse optimal ist. Das ist ein systemimmanentes Problem. Wenn ich ein Brötchen kaufe, weiß ich, was ich bekomme. Bei einer Versicherung muss ich mich auf das verlassen, was der Berater sagt. Deshalb ist für den Kunden die Beratung essentiell.

Was taugen die Protokolle, die die Vermittler nach der Beratung anfertigen müssen?

Die Formulierung und die Gestaltung der Formulare ist überwiegend gut. Das Problem ist, wie sie ausgefüllt werden. Ich hatte mal einen Fall, da hatte der Vermittler in der Rubrik „Wunsch des Kunden“ „optimale Absicherung“ eingetragen, bei „Vorschlag des Vermittlers“ hieß es „optimale Absicherung“, und im Kästchen „abgeschlossener Vertrag“ stand dann „wie gewünscht“. Was wollen Sie damit anfangen? Ich glaube, vielen Vertretern ist nicht klar, dass sie den Vertrag gefährden, wenn sie das Formular falsch oder unvollständig ausfüllen. Denn wenn es zum Streit kommt, muss in solch einem Fall der Versicherer beweisen, dass der Kunde gut beraten worden ist. Das Unternehmen trägt die Beweislast.

Sollten Kunden die Protokolle unterschreiben oder fahren sie besser damit, das sein zu lassen?

Ich rate schon zur Unterschrift, aber man sollte das Protokoll vorher gut und aufmerksam durchlesen.

Verstehen denn die Leute das, was sie unterschreiben?

Bei einigen Beschwerden, die ich erhalte, merke ich deutlich, dass die Menschen sich nicht im Klaren waren, was sie mit ihrer Unterschrift bestätigt haben.

Die Versicherer scheinen das erkannt zu haben. Mit einer Transparenzoffensive wollen sie jetzt besser über die Kosten, den Inhalt und die Rendite von Versicherungen informieren. Unterstützen Sie das?

Ja, auf jeden Fall. Allerdings muss man genau dosieren, wie viele Informationen nötig sind und ab wann man die Verbraucher überfordert. Ich sehe das Problem bei den Produktinformationsblättern, die ja schon seit einiger Zeit gesetzlich vorgeschrieben sind. Hier müssen die Versicherer die Kunden in Kürze über die wichtigsten Eckdaten der Police informieren. Das gelingt nicht immer. Ich kenne Produktinformationsblätter, die in dem Bestreben, vollständig zu sein, den Kunden mit Informationen überfrachten. Das ist kein böser Wille, sondern hat haftungsrechtliche Gründe: Wenn man zu detailliert informiert, kann dem Versicherer nichts passieren, anders herum schon. Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Der Versicherungsverband will mit Werbefilmen das Image der Versicherer verbessern, für Ergo läuft eine teure Werbekampagne, in der das Unternehmen verspricht, besser auf seine Kunden eingehen zu wollen. Wie ernst ist das gemeint?

Umfragen haben ergeben, dass das Image der Versicherungen generell schlechter ist als die Wertschätzung gegenüber der eigenen Versicherung. Die Menschen finden also die eigene Versicherung besser als die Branche allgemein. Die Imagekampagnen sollen diese Lücke schließen.

Wo gibt es die häufigsten Probleme?

Beim Abschluss. Hier wird oft schon der Kern für die späteren Probleme gelegt.

Nimmt die Zahl der Beschwerden zu?

Im vergangenen Jahr hatten wir einen leichten Anstieg, wie sich die Zahl in diesem Jahr entwickeln wird, kann man noch nicht sagen.

Wie erfolgreich sind die Beschwerden?

Die Erfolgsquote liegt bei 37 Prozent. Das ist etwas besser als bei Klagen vor den Zivilgerichten. Bei Lebens- und Rentenversicherungen ist die Erfolgsquote allerdings nur halb so hoch. Das liegt daran, dass hier besonders viele Verständnisprobleme auftauchen. Manchmal kann ich aber auch bei rechtlichen Grenzfällen helfen.

Wann?

Ich hatte einen Fall, bei dem jemand eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen hatte und dann ins Wachkoma gefallen ist. Die Versicherung wollte nicht bezahlen, weil der Mann angeblich beim Abschluss falsche Gesundheitsangaben gemacht haben soll. Normalerweise würde in solchen Fällen der Kunde befragt, aber das geht ja bei diesem Mann nicht. Ich konnte erreichen, dass die Versicherung trotzdem leistet.

Und wo ist die Grenze?

Neulich ist ein Fall bekannt geworden, bei dem ein Hausbesitzer in seinem Keller Chinaböller auf die Nachbarskatze geworfen hat, um sie zu vertreiben. Dabei ist das gesamte Haus abgebrannt. So jemandem ist nicht zu helfen, auch nicht von uns.

Das Interview führte Heike Jahberg.

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