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„Ein zwar beschränkter, aber gemüthlicher, ehrlicher, treuherziger Gesell“ sei der Igel, schrieb der Tierforscher Alfred Brehm 1883 über das Stacheltier. „Der unmittelbare Nutzen, welchen sie den Menschen bringen, ist gering.“ Das zumindest verbindet den kleinen Säuger mit den meisten Igel-Leistungen der Ärzte.

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Zuzahlen beim Arzt: Darf's ein bisschen mehr sein?

Ultraschall, Akupunktur, Glaukom-Vorsorge: Für solche individuellen Gesundheitsleistungen - kurz: Igel - kassiert der Arzt extra. Die Kassen schlagen Alarm. Die Angebote sind nicht nur teuer, manchmal sind sie sogar schädlich.

Das Knie schmerzt, der Meniskus ist angerissen, der Knorpel schon ein wenig angegriffen. Der Orthopäde empfiehlt eine OP und Spritzen. Hyaluronsäure, Schmierstoff fürs gebeutelte Knie – doch leider zahle die Kasse das nicht. Die 400 Euro müsse der Patient selber aufbringen, aber das Geld sei gut investiert, verspricht der Arzt. Szenenwechsel. Von der schicken Praxis in Berlin-Zehlendorf mit Empfangstresen und Praxis-TV zu einer Kollegin nach Schmargendorf. Spritzen fürs Knie? Bringen nicht viel, meint die Ärztin. Aber wer unbedingt wolle, könne die Injektionen auch bei ihr bekommen – für 200 Euro.

Solche Szenen sind Alltag in deutschen Praxen. Immer häufiger zahlen Kassenpatienten Behandlungen aus eigener Tasche. Krebsvorsorge beim Frauenarzt? Der Ultraschall kostet extra – mal 16 Euro, mal 50, je nach Arzt. Routine-Check beim Augenarzt? Dann bitte noch einmal 20 Euro für die Messung des Augeninnendrucks. Denn all das sind individuelle Gesundheitsleistungen, „Igel“, für die die Kassen nicht aufkommen. 380 dieser Angebote gibt es inzwischen auf dem Markt, schätzt der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Das Spektrum reicht vom Sportattest bis zur Darmspülung. Gut 1,5 Milliarden Euro geben die Patienten jedes Jahr für „Igel“-Behandlungen aus, Tendenz steigend.

Denn immer mehr Ärzte erkennen, dass sie mit den Extras gutes Geld verdienen können. Während sie Kassenleistungen nur nach einem strengen Punkteregime abrechnen können, sind bei den „Igel“ größere Sprünge drin. Weil die Kassenpatienten hier wie Privatversicherte behandelt werden, zahlen sie die teureren Sätze, die in der privaten Krankenversicherungswelt üblich sind. Einige Ärzte bescheiden sich mit dem 1,1fachen oder dem 2,3fachen Satz, „das kann aber bis zum 3,5fachen Satz gehen“, weiß Dörte Elß von der Verbraucherzentrale Berlin. So kommen die Preisunterschiede zustande. Was sie abrechnen können und wie sie die Patienten überzeugen, lernen die Mediziner auf Verkaufsseminaren. Bis vor kurzem wurden diese noch vom Staat unterstützt, nach Protesten der Kassen hat das Bundesamt für Wirtschaft seine Förderung jedoch inzwischen eingestellt. Dennoch beteiligt sich der Staat nach wie vor indirekt an der Verkaufsschulung: „Ärzte können die Kosten für Seminare über Igel-Leistungen steuerlich absetzen“, weiß Steuerberater Wolfgang Wawro.

Die Kassen sehen die neue Geschäftstüchtigkeit der Mediziner kritisch. Zumindest, wenn die Aktivität vom Arzt ausgeht. „Die Patienten können nicht erkennen, ob ihnen der Arzt eine Behandlung in ihrem oder in seinem Interesse empfiehlt“, kritisiert Ann Marini vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen. Gestützt werden die Bedenken durch den Medizinischen Dienst, der „Igel“-Leistungen peu à peu unter die Lupe nimmt. 26 Angebote sind inzwischen bewertet (www.igel-monitor.de), das Ergebnis ist für die Ärzte verheerend: Nur drei sind nach Meinung der Gutachter „tendenziell positiv“, der Großteil bringt nichts oder schadet sogar. „Die meisten Leistungen werden aus gutem Grund nicht von den Kassen übernommen“, berichtet Gutachterin Silke Thomas. Kritisch sieht der Medizinische Dienst auch die umsatzstärksten Angebote auf dem Markt, den Ultraschall im Rahmen der Krebsvorsorge und die Glaukom-Vorsorge.

Die Ärzte wehren sich: Die Untersuchungen sind sinnvoll

Die Ärzteschaft weist solche Vorwürfe zurück. „Der grüne Star ist die häufigste Ursache für eine Erblindung“, gibt Georg Eckert, Sprecher des Berufsverbands der Augenärzte, zu bedenken. Die Krankheit sei „gut diagnostizierbar“, die Kritik an der Glaukom-Vorsorge „nicht nachvollziehbar“. Auch die Frauenärzte fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Der Vaginalschall und andere Igel-Angebote seien „notwendige Untersuchungen und nutzen nachweislich den Frauen“, meint der Präsident des Gynäkologen-Berufsverbands, Christian Albring. Damit würden „untastbare zystische oder solide Tumore im kleinen Becken“ entdeckt.

Beim Medizinischen Dienst sieht man das anders. Dort bewertet man die „Igel“ anhand wissenschaftlicher Studien. Und glaubt man den Veröffentlichungen, sterben gleich viele Frauen an Eierstockkrebs – mit und ohne Ultraschall. Hinzu kommt: Die Untersuchung führe oft zu Fehlalarmen. „Die Patienten werden in Angst und Schrecken versetzt“, ärgert sich Gutachterin Thomas. Zudem werde eine Spirale von unnötigen weiteren Untersuchungen bis hin zu vermeidbaren Eingriffen in Gang gesetzt. „Die Ärzte erklären den Patienten, warum die Therapie gut sein soll, aber die möglichen Risiken und Schäden werden verschwiegen“, kritisiert Thomas.

Selbst ihr oberster Vertreter mahnt die Ärzte zur Zurückhaltung. „Für das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Ärzten ist ein fairer Umgang mit individuellen Gesundheitsleistungen unverzichtbar“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, dem Tagesspiegel. „Ärzte dürfen ihre Patienten nicht zur Inanspruchnahme einer Leistung drängen und keine falschen Erwartungen hinsichtlich eines Behandlungserfolges wecken“, warnt der Kammerpräsident. Und auch der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Jens Spahn, ist alarmiert. „Es ist schon bemerkenswert, dass der Ärztetag selbst davor warnt, dass Igel-Leistungen wider die ärztliche Ethik zur Gewinnmaximierung genutzt werden könnten. Da muss man sicher aufpassen“, sagte Spahn dem Tagesspiegel.

Verbraucherschützer und Krankenkassen möchten die Patienten per Gesetz schützen. Sie wünschen sich im geplanten Patientenrechtegesetz eine Klausel, nach der der Arzt bei „Igel“ eine 24-stündige Bedenkzeit zwischen Beratung und Behandlung einhalten muss. Der Patient soll so die Chance bekommen, die Sache noch einmal zu überdenken und sich zu informieren. Doch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) ist dagegen. Eine solche Bedenkzeit sei nicht nur „wenig praktikabel“, sagte eine Sprecherin des Ministeriums dem Tagesspiegel, sondern könne – wegen des dann nötigen zweiten Arztbesuchs – auch den Patienteninteressen zuwiderlaufen.

Mit zu großer Eile schneiden sich die Ärzte jedoch ins eigene Fleisch. Denn im Bundesmantelvertrag für die Kassenärzte ist festgelegt, dass die Mediziner nur dann für Igel kassieren dürfen, wenn sie vorher mit den Patienten einen schriftlichen Vertrag geschlossen haben. Das wird oft übersehen, die Patienten unterschreiben nichts. Die Konsequenz: „Der Kunde ist nicht verpflichtet zu zahlen“, weiß Verbraucherschützerin Elß.

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