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Nähen im Akkord: Frauen im Gefängnis Hoheneck.

© W. Thieme, picture alliance / ZB

Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen: Schuften für den Westen

Nicht nur Ikea, auch Firmen wie Schiesser, Underberg oder Beiersdorf sollen von Häftlingsarbeit in der DDR profitiert haben. Doch die bestreiten das.

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Als Tatjana Sterneberg die Bettwäsche auf dem Wühltisch im Karstadt in der Nähe des Bahnhofs Zoo entdeckt, holt sie ihre Vergangenheit ein. Es ist Ende der 70er Jahre, Sterneberg lebt seit kurzem in West-Berlin. „Mir war schnell klar: Das muss einer der Bettbezüge sein, die wir in Hoheneck genäht haben“, erzählt die heute 60-Jährige. Auf einem kleinen Etikett, in die Wäsche eingenäht, erkennt sie die Zahl „18“.

Zwei Jahre, von 1974 bis 1976, saß Sterneberg als politische Gefangene im Frauengefängnis Hoheneck im Erzgebirge – inhaftiert, weil sie die Flucht in den Westen geplant hatte. Zwangsarbeit gehörte in Hoheneck zum Alltag. „Erziehung durch Arbeit nannte sich das“, sagt sie. Im Akkord nähte sie Bettwäsche: 150 Bett- oder alternativ 350 Kissenbezüge musste sie in acht Stunden schaffen. Um zu überprüfen, ob diese Norm auch eingehalten wurde, wurde in jeden Bezug die Nummer des jeweiligen Häftlings eingenäht. Die 18 war Sternebergs Nummer. Einen ersten Verdacht, dass die Bettwäsche für den Westen bestimmt war, hatte sie schon damals im Gefängnis: „Wir haben Damast-Wäsche genäht, die gab es im Osten gar nicht zu kaufen.“

So wie die Berlinerin sollen zahlreiche politische Gefangene in der ehemaligen DDR unter Androhung von Strafe Produkte für Westkonzerne hergestellt haben. Die Möbelkette Ikea hatte diese Woche Schlagzeilen gemacht, nachdem der schwedische Fernsehsender SVT berichtet hatte, Ikea-Möbel wie das Sofa „Klippan“, das „Billy“-Regal oder der Drehstuhl „Malung“ seien in der DDR von Zwangsarbeitern produziert worden.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, sind sich Experten einig. „Ehemalige Häftlinge berichten zum Beispiel immer wieder, dass sie Produkte, die sie gefertigt haben, später im Neckermann-Katalog entdeckt haben“, sagt Tobias Wunschik von der Stasi-Unterlagen-Behörde. Ähnliche Berichte gibt es von Zeitzeugen, die von ihnen gefertigte Strumpfhosen und Frotteehandtücher im Quelle-Katalog wiederfanden. Und auch Produkte von Unternehmen wie Salamander, Schiesser, Beiersdorf, Underberg oder Thyssen sollen in der DDR unter fragwürdigen Bedingungen produziert worden sein, heißt es aus dem Umfeld der Unterlagenbehörde. „Ich würde es begrüßen, wenn westliche und vor allem bundesdeutsche Unternehmen, die in der DDR produzieren ließen, für Transparenz sorgen würden“, sagte Behördenchef Roland Jahn dem Magazin „Focus“.

Den meisten Unternehmen dürfte eine Rekonstruktion schwer fallen

Eine der Gefangenen war Tatjana Sterneberg. Auch ihr Lebensgefährte Carl-Wolfgang Holzapfel saß zu DDR-Zeiten im Gefängnis.
Eine der Gefangenen war Tatjana Sterneberg. Auch ihr Lebensgefährte Carl-Wolfgang Holzapfel saß zu DDR-Zeiten im Gefängnis.

© Georg Moritz

Die Unternehmen sehen sich jedoch nicht in der Pflicht. Michael Huggle, von 1975 bis 1996 Vorstand bei Schiesser, sagte dem Tagesspiegel: „Unsere Produkte sind definitiv nicht unter Zwangsarbeit in der DDR produziert worden.“ „Aktuell haben wir keine Kenntnis von solchen Vorgängen“, heißt es in einer Stellungnahme des Versandhändlers Neckermann. Das Unternehmen bestätigte dem Tagesspiegel lediglich, es habe zu DDR-Zeiten Waren „wie Spielzeug, Möbel und Textilien von Lieferanten aus der DDR bezogen“. Auch Underberg berichtet, es habe in Lichtenberg unter dem Namen „VEB Bärensiegel“ einen Abfüllbetrieb für den Kräuterschnaps gegeben – das Gerücht, politische Gefangene hätten für sie gearbeitet, entbehre aber jeder Grundlage. Beiersdorf hat ebenfalls keine Kenntnisse über Zwangsarbeit von politischen Häftlingen, will „diesen Themenkomplex aber weiter untersuchen“. Der Schuhhersteller Salamander ist nach Aussage einer Sprecherin in den letzten Tagen mehrfach mit dieser Behauptung konfrontiert worden. „Wir sehen im Moment aber keinen Anlass, in diese Nachforschungen mehr Energie hineinzustecken“, sagt sie. Auch Thyssen weist die Vorwürfe zurück. Ein Sprecher des Stahlherstellers Klöckner & Co bestätigte zwar intensive Kontakte der damaligen Klöckner-Gruppe zur DDR, sieht sich aber nicht als Rechtsnachfolgerin der Gruppe.

Den meisten Unternehmen dürfte es heute schwerfallen, genau zu rekonstruieren, unter welchen Umständen ihre Produkte in der DDR genau produziert wurden. Denn in den meisten Fällen hatten die West-Konzerne keine eigenen Produktionsstätten vor Ort. „Es waren sogenannte Außenhandelsbetriebe zwischengeschaltet“, erklärt Steffen Alisch vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Diese Betriebe schlossen Verträge mit den West-Konzernen und beauftragten dann Firmen in der DDR mit der Produktion. „Wenn die West-Konzerne nicht explizit nach den Arbeitsbedingungen gefragt haben, haben sie auch nichts von der Zwangsarbeit mitbekommen“, sagt der Forscher.

Belegt ist etwa laut Alisch, dass im Stasigefängnis in Cottbus Häftlinge Gehäuse für Pentacon-Kameras gefertigt haben, die später an westliche Handelsketten geliefert wurden. Ein Großteil davon dürfte von politischen Gefangenen hergestellt worden sein. „Zeitweise waren 70 bis 80 Prozent der Häftlinge in Cottbus Ausreisewillige“, sagt Alisch. Auch hätten Insassen im Gefängnis in Torgau Weihnachtskerzen für den Export in den Westen gefertigt und in Hoheneck seien neben Bettwäsche auch Damenstrümpfe für BRD-Kaufhäuser produziert worden.

Im Frauengefängnis Hoheneck wurde rund um die Uhr gearbeitet

Die Häftlinge selbst wussten damals meist gar nicht für wen sie dort Produkte herstellen. Carl-Wolfgang Holzapfel, der im Stasi-Gefängnis Bautzen II einsaß, musste zum Beispiel Transformatoren zusammenschrauben. „Ich weiß bis heute nicht, wo die hingegangen sind“, sagt der Berliner, der inhaftiert worden ist, weil er am Checkpoint Charlie für die Freilassung politischer DDR-Gefangener demonstriert hatte. Zwar arbeiten auch heute noch Häftlinge in deutschen Gefängnissen, für sie gelten jedoch festgelegte Mindeststandards: Sie bekommen eine angemessene Bezahlung, haben feste Arbeitszeiten und feste Auflagen, was den Arbeitsschutz angeht. Und: Zwangsarbeit ist streng verboten.

In den DDR-Gefängnissen sah das dagegen ganz anders aus. „Man konnte sich der Arbeit nicht entziehen“, sagt Tatjana Sterneberg. Wer die Arbeit verweigerte, wurde bestraft: Erst bekam man keine Post mehr, dann kam man in Einzelarrest. Tobias Wunschik von der Stasi-Unterlagen-Behörde sagt: „Die Arbeit war schwer und oft gesundheitsgefährdend. Es kam häufig zu Verstümmelungen oder gar Todesfällen.“

Im Frauengefängnis Hoheneck, wo Sterneberg einsaß, wurde rund um die Uhr gearbeitet. „Auch wenn ich in meiner Zelle saß, habe ich immer das beständige Rattern der Maschinen aus den Arbeitsräumen auf der anderen Seite des Hofes gehört“, erzählt die Berlinerin. Besonders schwer sei die Nachtschicht gewesen. „Oft sind dann die Toiletten verschlossen worden, damit wir Gefangenen uns dort nicht ausruhten.“ 1976 wurde Sterneberg vom Westen für 40 000 DM freigekauft. Doch die Zeit als Häftling Nummer 18 im „Arbeitskommando“ in Hoheneck wird sie wohl nie vergessen können.

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