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Seniorin im Rollstuhl in einem Berliner Altersheim.

© Kitty Kleist-Heinrich

100.000 Altenheimbewohner leiden an Depression: Hilfsbedürftig, aber nicht hoffnungslos

Jeder siebte Mensch im Altersheim ist depressiv. Psychotherapeutische Hilfe erhalten die Betroffenen bislang nicht. Ein Berliner Projekt will das ändern.

Als Karl Kühn* ins Altersheim zog, hörte er auf, in die Zukunft zu schauen. Denn wenn er daran dachte, sah der 80-Jährige nur sein Heimzimmer. Es kam ihm vor, als bewegten sich die Wände und Decke auf ihn zu, um ihn einzuschließen. Für die Zukunft, dachte er, bleibt doch nur noch eine Holzkiste. Ein Sarg.

Kühn ist einer von etwa 100 000 Altenheimbewohnern in Deutschland, die an einer Depression erkrankt sind. Experten schätzen, dass mindestens 14 Prozent aller älteren Menschen, die in Pflegeeinrichtungen wohnen, depressiv sind – deutlich mehr als Gleichaltrige, die in ihren eigenen vier Wänden wohnen.

Doch mit der Schwermut bleiben Menschen wie Kühn bislang allein. Denn: Psychotherapie findet in Altersheimen nicht statt. „Während Psychologen in Kinder- und Jugendheimen fester Bestandteil des Personals sind und es regelmäßige ärztliche Visiten gibt, fehlen sie in Pflege- und Senioreneinrichtungen“, sagt die Psychotherapeutin und Forscherin Eva-Marie Kessler von der Universität Heidelberg. Mit einem Projekt, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird, möchte sie die Situation in Deutschlands stationärer Altenhilfe verbessern. Gemeinsam mit der Caritas und der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) hat sie erstmals in Berliner Einrichtungen betagte Menschen mit Depressionen behandelt. Auch Kühn.

Unklar ist, ob der Umzug ins Heim depressiv macht

„Das ist überfällig. Psychotherapie ist ein wichtiges Element, um das Leben in Pflegeeinrichtungen lebenswerter zu gestalten“, sagt auch der Leiter des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie, Meinolf Peters. Gerade die über 75-Jährigen seien von der Versorgung abgetrennt. Natürlich lebten sie nicht alle im Altersheim. „Dennoch ist dies ein bedeutsamer Lebensbereich für viele alte Menschen“, sagt Peters.

Bislang ist unklar, ob der Umzug ins Altersheim die Menschen depressiv macht oder ob die Senioren mit Depression eher stationäre Altenhilfe in Anspruch nehmen. „Eine Depression schränkt die Selbstständigkeit ein und erhöht das Risiko für körperliche Beschwerden sowie Demenz“, sagt Kessler. Das macht das Leben in der eigenen Wohnung schwer. „Andererseits schränkt das Heim Privatsphäre und Autonomie ein. Das Leben dort kann also auch Auslöser einer Depression sein.“

Egal, was zuerst da war: Die Erkrankung muss behandelt werden, denn ihre Folgen sind im Alter gravierend. Depressionen begünstigen oder verschlimmern bei alten Menschen körperliche Erkrankungen, dämpfen die Wirkung von Rehabilitationen und erhöhen das Sterberisiko, auch weile viele Erkrankte sich das Leben nehmen, schreibt der Mediziner Claus Wächtler in der „Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie“. Die Suizidrate ist in keinem Lebensabschnitt derart hoch wie ab 65 Jahren. Das ist auch so, weil Suizidversuche, die in jüngeren Jahren glimpflich ausgegangen wären, im Alter bei einem körperlich geschwächten Menschen tatsächlich zum Tod führen.

Ein Viertel litt unter einer Depression, war aber geistig fit genug für eine Therapie

Trotzdem: Die Depression im Alter wird oft noch übersehen – vor allem in Altersheimen. Kessler und ihre Kollegen wollen das nicht hinnehmen. Sie untersuchten mehr als 250 Heimbewohner in Seniorenstiften der Caritas in Berlin auf ihre seelische Verfassung. Etwa ein Viertel litt unter einer Depression und war zugleich geistig fit genug, um von einer Psychotherapie profitieren zu können. Schließlich begannen 23 Heimbewohner im Alter von 69 bis 95 Jahren bei Kessler und fünf anderen Psychotherapeuten in Ausbildung eine Behandlung. Die Krankenkassen genehmigten allen eine Kurzzeittherapie mit 25 Sitzungen. „Das waren bundesweit wohl die ersten Psychotherapiestunden, die jemals Bewohner eines Altenheimes beantragt und auch erhalten haben“, sagt Kessler.

Einige der Behandlungen laufen noch, Ergebnisse der Evaluation erwartet Kessler in den nächsten Monaten. Die Erfolge zeichnen sich bereits ab. Viele Patienten können sich besser mit dem Alltag im Heim abfinden, gestalten ihre Zeit wieder aktiv. Wie Karl Kühn: Er hat sich anfangs eingekapselt. Jeden Tag wünschte er sich zurück in seine geliebte Drei-Zimmer-Wohnung, in der er einst mit seiner Frau lebte. Nachdem sie gestorben war, hat er noch einige Zeit allein in den Räumen gewohnt. Schon seit einigen Jahren ist er erblindet. Nach einer schweren Lungenentzündung und Monaten im Koma im Krankenhaus hat er sich entschieden, in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen. „Das war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Ich habe nächtelang nicht geschlafen, sondern nachts das Für und Wider abgewogen“, erinnert er sich.

* Der Name wurde auf Wunsch des Betroffenen geändert.

Sitztanz, Rätselnachmittage und Singen

Ein Jahr ist sein Umzug in das Seniorenstift her. Seit etwa einem halben Jahr besucht ihn jede Woche Eva-Marie Kessler für die Psychotherapiestunde. Ihr hat er das erste Mal in seinem Leben von den schlimmen Kriegserlebnissen berichtet, die ihn bis heute beschäftigen. Schuldgefühle, Verluste und Einsamkeit waren häufig Themen in den Sitzungen. Kühn hat diese Zeit gutgetan: „Frau Kessler hat mir Mut gemacht. Durch sie habe ich mich getraut, endlich Bekanntschaften mit anderen Bewohnern zu schließen“, sagt er. Sitztanz, Rätselnachmittage und Singen: Fast jeden Tag besucht er Veranstaltungen, wo er schwatzt und lacht.

Auch den Alten hilft eine Psychotherapie

Dass Psychotherapie auch jenseits des Rentenbeginns wirksam ist, zeigte unter anderem eine Übersichtsstudie von deutschen und britischen Forschern. Sie analysierten 57 Studien, für die Psychotherapie mit Probanden im Durchschnittsalter von 72 Jahren durchgeführt wurde. Vor allem Senioren mit Depressionen half die Behandlung sehr gut. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Effektivität von Psychotherapie nicht mit steigendem Alter abnimmt“, schreiben sie.

Ebenso berichten Forscher aus anderen Ländern inzwischen von erfolgreichen Psychotherapien in Altenpflegeeinrichtungen. Eine polnische Studie zeigte, was schon vier Wochen Gruppenpsychotherapie bewirken können: Die über 70-jährigen Frauen litten unter orthopädischen oder chronischen Erkrankungen sowie Folgen eines Schlaganfalls. Nach der Behandlung war ihre Gemütslage deutlich aufgehellt. Auch ihre Physiotherapie schien besser zu wirken, wenn die betagten Damen psychologische Hilfe erhalten hatten. Eine weitere Untersuchung mit Altenheimbewohnern in Taiwan deutet darauf hin, dass selbst bei Betagten mit kognitiven Einschränkungen Psychotherapie greift. Die 61 Probanden waren an Demenz erkrankt, mit milden bis moderaten Symptomen. Zwölf Wochen lang nahmen sie an einer Gruppenbehandlung teil. Danach waren sie weniger depressiv und verhielten sich weniger apathisch.

Man müsse andere Maßstäbe ansetzen, um den Erfolg einer Psychotherapie bei Älteren einzuschätzen, betont Kessler. „Natürlich gibt es Patienten, die nach der Therapie keine Symptome mehr zeigen. Aber es ist schon ein großer Erfolg, wenn die Patienten lernen, trotz körperlicher Einschränkungen und damit verbundener negativer Gefühle Momente von Wohlbefinden zu erleben“, sagt sie. Viele hätten unter den schwierigen Lebensbedingungen und wegen Erkrankungen ihr Selbstwertgefühl verloren. Durch die Therapie würden viele wieder erleben, dass sie wertvoll sind und Bedeutung für andere haben. Auch wenn sie in einem Heim lebten und auf Hilfe angewiesen seien.

„Wenn man älter wird und die Behinderung zunimmt, fällt vieles schwer“, sagt ihr Patient Kühn. Kleinigkeiten erschüttern ihn schneller, etwa wenn ein Gerät nicht funktioniert. Das stört ihn, tagelang. Doch seit der Behandlung ist er gelassener, fühlt sich wohler. „Ich war mir gar nicht sicher, ob eine Psychotherapie mir was bringt. Aber ich wollte es ausprobieren. Ich bin heute dankbar dafür und wünsche mir, dass solch eine Behandlung in allen Altersheimen möglich ist“, sagt er. Kühn schätzt, dass 98 Prozent seiner Mitbewohner solch eine psychologische Unterstützung brauchen. So wie er. Das Gefühl, dass die Wände auf ihn zukämen, habe er durch die Behandlung zwar nicht verloren. Doch sie würden sich nun viel langsamer bewegen.

Jana Hauschild

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