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© Thilo Rückeis

60 Jahre Freie Universität: Eine wilde Geschichte

Die Freie Universität Berlin feiert ihren 60. Geburtstag: Sieben Höhepunkte einer turbulenten Zeit.

Ihr erster Student

November 1948, im Immatrikulationsbüro der Freien Universität in der Boltzmannstraße 3. Zwei Gründungsstudenten, Stanislaw Karol Kubicki und Helmut Coper, stehen vor der Schreibkraft und werfen eine Münze: Wer wird als erster Student eingeschrieben? Kubicki hat Glück und bekommt die Matrikelnummer 1.

Als der 22-jährige Medizinstudent 1948 die kommunistisch indoktrinierte Universität Unter den Linden verlässt, hat er schon das Physikum in der Tasche. So kommt es, dass Kubicki auch zu den Pionieren der Hochschulmedizin gehört: Er gehört zu jenen Studenten und Wissenschaftlern, die das Klinikum Westend als Uniklinikum der FU auswählen.

In den ersten Semestern habe wirklich eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden an der FU bestanden, schwärmt der heute 82-Jährige. 1968 wäre der mittlerweile habilitierte Neurologe der FU allerdings fast verloren gegangen: „Ich hatte es satt“, sagt Kubicki. Die linken Studenten hätten den Ruf der Universität ruiniert, er habe schon eine Professur in Heidelberg annehmen wollen. Aber dann folgt er doch dem Ruf seines Chefs: „Wir müssen die Uni verteidigen.“ Kubicki wird Leiter der Abteilung für Klinische Neurophysiologie – und 1970 Mitbegründer der „Notgemeinschaft für eine freie Universität“, einer Vereinigung konservativer Professoren. Sie veröffentlicht schwarze Listen linker Dozenten und verhindert manche Hochschulkarriere.

Der erste FU-Student ist heute ihr größter Fan: „Das die FU den Elitestatus erringen wird, habe ich nie bezweifelt“, sagt er. Schließlich habe die FU schon früh internationale Kontakte geknüpft, und schon lange hätten FU-Wissenschaftler ganz vorne im Zitationsindex gestanden.

Ihr berühmtester Besucher

Über 20 000 Studierende drängen sich vor dem Henry-Ford-Bau, als US-Präsident John F. Kennedy am Nachmittag des 26. Juni 1963 zu ihnen spricht. Den orkanartigen Beifall nimmt Kennedy lächelnd entgegen, er grüßt die Studierenden „mit sparsamer Handbewegung“, wie der Tagesspiegel-Reporter beobachtet. Die Begeisterung für den Gast ist noch ungebrochen: Die USA haben den Aufbau der FU massiv finanziell unterstützt. Und wie ernst Kennedy sein junges Publikum nimmt, zeigt er mit seinem visionären Plädoyer für die Wiedervereinigung Deutschlands innerhalb eines geeinten Europas.

Der US-Präsident wird an der FU wie ein Popstar gefeiert. Und der Rektor ernennt Kennedy zum „Ehrenbürger“ der Universität. Nach der Rede des US-Präsidenten rennen Hunderte in Richtung Clayallee, um noch einmal einen Blick auf seinen Wagen zu werfen. Als Kennedy am 22. November 1963 in Dallas ermordet wird, sammeln sich FU-Studierende spontan zu einem Trauermarsch. Nur fünf Tage später wird das Amerika-Institut in „John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien“ umbenannt. Die FU hält es für durchaus möglich, bald Besuch von Präsident Obama zu bekommen. Sie sei schließlich „ein würdiger Ort für eine Ansprache an die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes“, teilt ein Sprecher mit.

Ihr wildester 68er

Es ist ein Skandal, als Rolf Kreibich im November 1969 zum Präsidenten der FU gewählt wird: Kein Professor, sondern ein Assistent und erst 31 Jahre alt! Kreibich, diplomierter Physiker und Soziologe, wird der Präsident der 68er. Zu erklären ist Kreibichs Wahl nur aus der Studentenbewegung – und ihrer Radikalisierung nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968: Im Mai verbrennen Studierende das FU-Wappen vor dem Rektorat, im Juni besetzen sie Institute. Das im August 1969 verabschiedete neue Berliner Hochschulgesetz soll dem Protest, der den Lehrbetrieb teilweise lahmlegt, die Grundlage entziehen. Es führt die Viertelparität in den Unigremien ein, Professoren, Wissenschaftliche Mitarbeiter, Studierende und sonstige Mitarbeiter erhalten die gleiche Stimmenzahl. Das gilt auch für das Konzil, das Kreibich zum Präsidenten wählt, sein respektabler Gegenkandidat, FU-Gründungsstudent und Philosophie-Professor Hans-Joachim Lieber, unterliegt deutlich.

Eine von Kreibichs ersten Amtshandlungen: Er verbannt die Talare der Professoren und die Amtskette des Präsidenten ins FU-Archiv. Kreibichs Vizepräsident, der Jurist Uwe Wesel, erzählte später, dass sich Kreibich die Amtskette zum Spaß umgelegt habe: „Wir haben furchtbar gelacht.“ In der FU-Chronik ist zumindest eine weitere Sponti-Aktion verzeichnet: Kreibich habe sich an einem Go-in gegen den angefeindeten Romanisten Walter Pabst beteiligt. Die „Notgemeinschaft“ beschuldigt Kreibich, die Uni „im sozialistischen Sinne umzugestalten“.

Kreibich, der seit 1981 das Berliner Institut für Zukunftsstudien leitet, sieht seine Rolle ganz anders. Er habe Pabst damals gegen die „völlig überzogenen Attacken“ der Studenten verteidigt. Und als Marxist bezeichnet zu werden, sei sogar beleidigend gewesen. Schließlich habe er 1960 fluchtartig Ost-Berlin verlassen, nachdem er an der Humboldt-Uni Flugblätter gegen die Indoktrinierung geklebt hatte.

Ihr härtester Streik

„Die seit Jahren ruhige Freie Universität hat sich binnen weniger Tage in einen Ort des Protestes, des Vorlesungsboykotts und der Institutsbesetzungen verwandelt“, berichtet der Tagesspiegel am 3. Dezember 1988, einen Tag vor der 40-Jahr-Feier der Uni. „Das Otto-Suhr-Institut ist mit Tischen und Stühlen am Eingang völlig verrammelt worden. ,Streikposten’ bewachen den Eingang. Die Rost- und Silberlaube war gestern ebenfalls mit Tischen, die in die großen ,Verbindungsstraßen‘ gestellt wurden, für den Lehrbetrieb unbrauchbar gemacht worden.“ Die Protestwelle richtet sich gegen die schlechten Studienbedingungen der 60 000 FU-Studierenden, gegen die neue Organisation mehrerer Institute, und gegen die Feier zum 40. FU-Geburtstag, die den Studierenden angesichts der Probleme grotesk erscheint. Sie verlangen die längst abgeschaffte Viertelparität in den Gremien zurück und fordern den Rücktritt des konservativen FU-Präsidenten Heckelmann sowie des Wissenschaftssenators Turner. Monatelang blockieren die Streikenden FU-Gebäude. Immer wieder kommt es dabei zu Rangeleien mit der rabiat agierenden Polizei – aber bald auch mit studierwilligen Kommilitonen. Je länger der Streik fortdauert, desto hässlicher wird er. Studierende demolieren Möbel der FU und beschmieren Gebäude – ein Millionenschaden.

Immerhin: Die Studierenden erreichen die Rücknahme der Strukturplanung. Ein neues Programm mit Projekttutorien für alternative Lernformen wird aufgelegt. Dessen Vorleseverzeichnis ziert jahrelang das Streiksymbol: das zähnefletschende „Uni-Wut“ Gummibärchen. Die Studienbedingungen aber bleiben schlecht. Als der Senat neue Einsparungen verlangte, löst er damit den nächsten großen Berliner Streik im Wintersemester 2003/2004 aus.

Ihr herbster Verlust

Phasen der Ruhe waren für die FU immer nur kurz. Im Winter 2001/2002 treibt die Politik wochenlang die Uni-Mediziner auf die eisigen Straßen: Wütende Ärzte und Professoren in weißen Kitteln schieben Krankenhausbetten durch Steglitz, vor dem ICC durchbrechen Kliniker eine Polizeikette, um die Landesdelegierten der SPD zu stören. Auf mehreren großen Kundgebungen drohen Berlins Unipräsidenten und Gewerkschafter: „Wir werden es dieser Regierung zeigen!“ Das Maskottchen der Bewegung: der „letzte Forscher“, ein Skelett mit braunem Schlapphut, das bei jeder Demo auf den Schultern eines Mediziners teilnimmt – ein Symbol für die bedrohte FU-Medizin.

Die Berliner Regierungskoalition hatte beschlossen, die Universitätsmedizin der FU abzuwickeln und das Uniklinikum Benjamin Franklin in ein städtisches oder privates Krankenhaus umzuwandeln (ihr Uniklinikum Rudolf Virchow und die Zahnklinik Nord hatte die FU schon vorher an die Humboldt-Uni abtreten müssen). Wegen des massiven Widerstandes wurde der Beschluss zum Klinikum Franklin schließlich abgemildert: zu einer Fusion der Unimedizin von FU und Humboldt-Universität. Auch darin sieht FU-Präsident Dieter Lenzen aber heute eine „Enteignung“ der FU. Zumal inzwischen die Vorklinik der FU nach Mitte verlagert wurde. Damit verlor Dahlem seinen Medizinernachwuchs sowie einen Pfeiler seines Biocampus.

Ihr größter Triumph

Aus dem Präsidialamt tönt Beethovens Neunte, Fernsehjournalisten bringen ihre Kameras in Position, in der Rostlaube rennt eine Professorin von Tür zu Tür und ruft: „Habt ihr schon gehört? Wir sind Elite!“. Als die FU am 19. Oktober 2007 zu einer von bundesweit neun Exzellenzuniversitäten gekürt wird, ist das eine Sensation. Der Underdog, lange von politischen Kämpfen und Unterfinanzierung geschwächt, setzt sich an die Spitze und hängt sogar die Berliner Favoritin ab, die HU. In den nächsten fünf Jahren bekommt die FU einen hohen zweistelligen Millionenbetrag für ihre Forschung – und neues Selbstbewusstsein.

Ihr größter Wunsch

Aus Sicht der Humboldt-Universität hat die FU eine gewisse Ähnlichkeit mit Anna Anderson. Anna Anderson kam 1920 nach Berlin und behauptete steif und fest, die letzte Tochter des russischen Zaren zu sein. Zu Unrecht, wie sich schließlich feststellen ließ.

Die FU nun wünscht sich von Jahr zu Jahr mehr, keine geringere zu sein als die Tochter der „Mutter aller modernen Universitäten“, also die Erbin der 1810 nach dem Konzept Humboldts gegründeten Berliner Universität, die seit der Nachkriegszeit Humboldt-Universität heißt. Die FU als Erbin der alten Universität? Die FU verweist auf ihren Genpool: Sie ist vor sechzig Jahren als Antwort auf die damals unter stalinistischen Terror stehende Universität Unter den Linden gegründet worden. Sie war es also, die die Fackel der freien Wissenschaft für Berlin trug, also Humboldts Geist bewahrte. Auch gehörten zu ihren ersten Studierenden und Wissenschaftlern solche, die aus der Berliner Uni von den Kommunisten vertrieben wurden. Und die FU nahm ihren Betrieb in Gebäuden auf, die vorher der alten Universität gehört hatten.

Über all das können die Humboldtianer nur die Köpfe schütteln. Für sie ist die FU die Anastasia des Hochschulwesens: eine Erbschleicherin, vielleicht auch nur ein Opfer eines Nervenleidens. Der FU ist das egal. Sie weiß: Ein DNA-Test würde sofort beweisen, dass sie Fleisch vom Fleische der alten Berliner Uni ist.

Die Freie Universität wurde am 4. Dezember 1948 mit einem Festakt im Titania-Palast gegründet (Foto: pa/akg). Der Lehrbetrieb für die 2140 Studierenden (ausgewählt aus 5500 Bewerbern) und 21 Professoren hatte am 15. November begonnen. Heute hat die FU 31 600 Studierende und 380 Professoren. Vom Land Berlin erhält sie jährlich 276 Millionen Euro. Daneben werben die Wissenschaftler Drittmittel für ihre Forschung ein, 2007 waren es 58,8 Millionen Euro. Die FU hat 10 Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seit 1988 erhielten 14 FU-Wissenschaftler den mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotierten Leibnizpreis der DFG.

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