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Gesund. Kurzfristige Adrenalinschübe stärken die Abwehr.

© R. Orlowski / Reuters

Abhärten durch Anspannung: Wenn Stress gut tut

Er gilt als Krankmacher – zu Recht. Doch Stress kann auch hilfreich sein. Kurze Phasen trainieren sogar die Abwehrkräfte.

In den Innenstädten heißen Cafés „Auszeit“ oder „Wohlfühloase“, man hat die Wahl zwischen Entspannungs-, Stressblocker- oder Chillout-Tee. Die Wellnessindustrie boomt, das Volkshochschulprogramm birst vor Yogakursen. Wir können uns nicht vorwerfen, dass wir nichts gegen ihn tun – den bösen, bösen Stress.

Doch hat er diesen Ruf wirklich verdient? Diese Frage wirft der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann in seinem Buch „Stress – ein Lebensmittel“ auf (Pattloch-Verlag, 19,99 Euro). Mit dem Ziel, er wolle den Stress rehabilitieren. Denn er mache wach, fit und gesund, so seine These. Unter Stress rufe die Antilope in freier Wildbahn Höchstleistungen ab. Im Alarmzustand gelinge es der Weinbergschnecke, Attacken mit Schwermetall erfolgreich abzuwehren und auch den Menschen habe die Stressreaktion gute Dienste beim Überleben geleistet.

Dass kurzfristiger Stress hilft, bestätigen Experten aus der ganzen Welt, etwa der Neuroimmunologe und Krebsforscher Firdaus Dhabhar von der Universität Stanford. Vier Wochen lang bestrahlte er 60 Labormäuse regelmäßig für wenige Minuten mit UV-Licht. Die eine Hälfte der Tiere stresste er zuvor, indem er sie zweieinhalb Stunden in eine enge Plexiglasröhre sperrte, die anderen ließ er in Ruhe. Das Ergebnis lässt am Mythos „Krankmacher Stress“ zweifeln. Nach dem Experiment wiesen die gestressten Mäuse weniger bösartige Tumore auf als die entspannten. Zudem entwickelte der Krebs sich langsamer.

Akuter Stress stärkt die Immunabwehr

Dhabhar folgerte, dass akuter Stress offensichtlich die Immunabwehr der Mäuse stärke. Vor der Veröffentlichung im Fachmagazin „Brain, Behavior, and Immunity“ wollten die Forscher genau wissen, wie es dazu kommt. Dazu untersuchten sie das Blut der gestressten Nager auf Alarmsubstanzen: Interleukine hemmen Entzündungen, Interferone wirken gegen Tumorzellen, Chemokine bereiten den Körper auf einen Kampf mit einem Feind vor und signalisieren, dass die Immunzellen an die Orte geschickt werden müssen, wo sie gebraucht werden. Tatsächlich, alle diese Alarmstoffe zirkulierten im Blut der gestressten Mäuse.

Die Stressreaktion mixt also einen Cocktail aus Substanzen, der nur dafür gemacht zu sein scheint, um unseren Körper zu schützen. Doch wenn Stress wirklich so gesund ist, warum versuchen wir dann alle, ihn zu vermeiden?

Tun wir eigentlich gar nicht, sagt Urs Willmann. In seinem Buch unterhält er sich mit dem ehemaligen Fußballtorhüter Oliver Kahn, Basejumpern und anderen Verrückten. Dabei stellt er fest: Man muss gar kein Adrenalinjunkie sein, um den Stress zu lieben. Wie sonst sei es zu erklären, dass man sich bei Fußballspielen in völlige Raserei hineinsteigert oder blutrünstige Filme ansieht? Willmanns Fazit lautet, wir stehen auf Stress, wollen es aber nicht zugeben.

"Er kann beides, helfen und heilen"

Tatsächlich trainiert kurzer Stress unsere Abwehrkräfte. Langanhaltender oder zu häufiger Druck schadet jedoch. „Es ist ein Denkfehler, Stress für gut oder schlecht zu erklären“, sagt Markus Heinrichs von der Stressambulanz am Institut für Psychologie der Universität Freiburg. „Er kann beides, heilen und schaden.“ Positives Stresserleben rege uns an und halte uns am Leben. Dazu gehörten die Aufregung vor dem ersten Kuss, die Vorfreude auf einen schönen Urlaub oder der kurzzeitige körperliche Stress beim Sport. Seien Menschen aber nicht mehr in der Lage, das Cortisol und Adrenalin im Körper abzubauen, schade Stress in hohem Maße. Trennt sich der Partner, stirbt der Vater oder überfordert uns der Alltag, erleben wir den bedrohlichen Stress.

Heinrichs hat für seine Studien Haare von seinen Patienten untersucht, weil sich dort auch lang zurückliegender Stress ablesen lässt. „Das Ergebnis war deutlich, Arbeitslose und traumatisierte Menschen weisen regelmäßig die höchsten Cortisol-Ablagerungen auf“, sagt er.

Am meisten hilft menschliche Zuwendung

Da die Stressresistenz individuell sehr verschieden ausfällt, entwickeln Heinrichs und seine Kollegen eine differenzierte Diagnostik. Sie nutzen eine weiterentwickelte Form des bekannten Stresstests TSST (Trier Social Stress Test). Dieser besteht aus verschiedenen Teilen, etwa einer freien Rede, einem Kopfrechentest und einem körperlichen Belastungstest. Die Forscher messen währenddessen Blutdruck, Herzschlag und das Stresshormon Cortisol.

„Nichts beruhigt Menschen so sehr wie menschliche Zuwendung“, sagt der Psychologe. Machten seine Patienten den Stresstest mit einer Begleitperson, fiel ihre Cortisol-Stressreaktion wesentlich schwächer aus als bei den Probanden, die auf sich allein gestellt waren. Miteinander reden oder umarmen, wirke auf fast alle Menschen messbar beruhigend. „Wir haben unter anderem herausgefunden, dass Männer ihrer Partnerin vor einem Stresstest helfen, wenn sie nicht durch Reden unterstützen, sondern eine kurze Nackenmassage geben – die reduziert die Stresshormone für eine Stunde“, sagt Heinrichs. Ernsthaft? „Wissenschaftlich bewiesen“, sagt Heinrichs trocken.

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