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Studierende aus Syrien an der FU

© Thilo Rückeis

Akademisches Exil: Nicht nur Studierende, auch Forscher fliehen

In der Nazizeit halfen US-Stiftungen verfolgten Forschern. Was ist auf Flüchtlinge heute übertragbar? Und welche Initiativen gibt es derzeit in Deutschland?

Es war eine spektakuläre Rettung. Hedwig Kohn, eine von drei habilitierten Physikerinnen in der Weimarer Republik, war 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft von der Universität Breslau entlassen worden. 1940, im Jahr vor dem Beginn der Deportationen, gelang der 52-Jährigen die Ausreise über Schweden in die USA. Dort konnte sie eine Professur am Women’s College in Greensboro, North Carolina, antreten. Zur Flucht verholfen hatte ihr maßgeblich die International Federation of University Women.

Dem Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner, der Anfang der 60er Jahre mit „Die verspätete Nation“ berühmt werden sollte, rettete die Rockefeller Foundation nicht nur das wissenschaftliche Überleben. Die US-amerikanische Stiftung, die knapp 300 zumeist jüdische Wissenschaftler unterstützte, finanzierte Plessner für fünf Jahre eine Professur an der Universität Groningen.

Stiftungsprofessuren wie diese könnten ein Modell sein, um auch heute geflüchtete Wissenschaftler in Deutschland zu integrieren, sagt Carola Dietze, Historikerin an der Uni Gießen. Direkte Parallelen von der NS-Zeit in die Jetztzeit zu ziehen verbiete sich für sauber arbeitende Wissenschaftler, warnte dagegen Hans van Ess, Präsident der Max-Weber-Stiftung, bei einer Berliner Konferenz des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD) und des Deutschen Historischen Instituts in Washington über „Wissen auf der Flucht“. „In den 1930er Jahren war es Flucht aus Gründen der politischen und rassischen Verfolgung.“

Darf man die Situation im Jahr 1933 mit 2015 vergleichen?

Dietz verteidigte den Vergleich. Er sei schon wegen des hierzulande wenig veränderten Wissenschaftssystems gerechtfertigt. Während das US-amerikanische Collegesystem die Aufnahme von insgesamt 2000 vertriebenen Wissenschaftlern in den USA erleichterte, standen in Europa wegen des Lehrstuhlprinzips nur wenige Professuren zur Verfügung. Vor allem in Deutschland sei das bis heute so.

Tatsächlich ging es der Tagung an der American Academy um eben solche Vergleiche und um mögliche Vorbilder für die Förderung des aktuellen akademischen Exils. Der Satz „Wir schaffen das!“ müsse auch für die jetzt aus Syrien und anderen Krisenländer kommenden Wissenschaftler gelten, sagte der VHD-Vorsitzende Martin Schulze Wessel. „Und dieser Satz bedarf der historischen Vergewisserung über gelungene Integration in der Vergangenheit.“

Erste Initiativen der Wissenschaftsorganisationen, um nicht nur geflüchtete Studierende, sondern auch ihre Professoren an die Unis zu holen, gibt es bereits. So hat die Alexander von Humboldt-Stiftung vor wenigen Tagen ein Stipendien-Programm für vorerst 20 Verfolgte oder Geflüchtete aufgelegt. Antragsteller sind die Institute, die sie für zwei Jahre aufnehmen wollen. Von der Stiftung erhalten sie dafür eine einmalige Pauschale von 12000 Euro und die Mittel für das Stipendium. Um die monatliche Förderung von bis zu 3500 Euro bewerben sich die Geflüchteten dann direkt beim Institut.

Die Initiativen der der deutschen Wissenschaftsorganisationen

Die Stiftung kooperiert mit den internationalen wissenschaftlichen Hilfsorganisationen Scholars at Risk Network und Scholar Rescue Fund des Institute of International Education. Beide führen Listen mit gefährdeten Forscherinnen und Forschern, die in Europa Zuflucht suchen, helfen bei der Suche nach passenden Stellen. Aus Sicht der Humboldt-Stiftung soll die Philipp-Schwartz-Initiative – benannt nach einem Pathologen, der Deutschland 1933 verlassen musste und die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland gründete“ – mittelfristig weit mehr als 20 Forschern helfen. Das Programm solle ausgeweitet werden, sagte Abteilungsleiterin Ulrike Albrecht bei der Tagung. Die fünf größten privaten Stiftungen seien schon jetzt mit 1,2 Millionen Euro beteiligt. Erst dies habe auch das Auswärtige Amt nun bewegt, sich ebenfalls zu engagieren.

Niemand interessierte sich für seine Arbeit in Syrien

Das umfänglichste Programm hat die Helmholtz-Gemeinschaft gestartet. Die Wissenschaftsorganisation mit 18 Forschungszentren und einem Budget von mehr als vier Milliarden Euro will an jedem ihrer Zentren „zehn bis 20 Menschen eine berufliche Zukunft geben“, sagt Helmholtz-Präsident Otmar D. Wiestler. Denkbar seien verschiedenste Formen von der Hospitation über Ausbildungsplätze für Jugendliche bis hin zu Stellen für Wissenschaftler. Bei der Sichtung der Bewerbungen hilft auch die Bundesagentur für Arbeit, die auch finanzielle Eingliederungsförderungen gewährt. Die Helmholtz-Zentrale rechnet mit eigenen Kosten von zunächst zwei Millionen Euro.

Es fehlen Perspektiven für Geisteswissenschaftler

Um die Situation von Geflüchteten zu verbessern, „müssen nicht erst neue Förderverfahren eingerichtet werden“, sagt dagegen Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er forderte Unis und DFG-Projektleiter auf, geflüchtete Wissenschaftler über Zusatzanträge in laufende Vorhaben einzubinden. Die DFG wolle „rasch, ohne großen zusätzlichen Aufwand und flexibel“ helfen. Die Fraunhofer- und die Max-Planck-Gesellschaft haben im September eine gemeinsame Initiative zur Integration von Flüchtlingen angekündigt.

Dieses engagierte, aber nicht immer koordinierte Nebeneinander von Programmen mag Geflüchtete verwirren – und noch Wünsche offenlassen. So vermisst Ammar Abdulrahman, ehemaliger Direktor des al-Basil Zentrums für archäologische Forschung in Damaskus, Perspektiven für Geisteswissenschaftler. In Konstanz, wo er Gast der Universität war, sah er sich zu neuen prähistorischen Projekten gedrängt, für seine Arbeit in Syrien habe man sich nicht interessiert. „Wir sind doch der Schlüssel für die Zukunft in unseren Heimatländern“, sagte Abdulrahman. Er träumt von einer eigenen Arbeitsstelle, die den Wiederaufbau zerstörter archäologischer Stätten in Syrien projektiert.

Die "New School" in New York war zunächst eine Universität im Exil

Beim Historikerverband hat man dem Archäologen gut zugehört. In einem am Freitag veröffentlichten Memorandum weist der VHD auf den „Beitrag zur Zukunftsgestaltung“ hin, den Deutschland und andere EU-Länder mithilfe von Programmen für geflohene Akademikerinnen und Akademiker leisten könnten. Dieses wissenschaftliche Potenzial müsse gefördert werden, auch um „im Dialog die Entwicklung von Demokratie, Chancengleichheit und Rechtsstaatlichkeit in den Herkunftsländern“ zu unterstützen.

Und wieder wird die Parallele zur Nazizeit gezogen. Im Vordergrund vor allem der US-amerikanischen Programme standen Nützlichkeitserwägungen: Wie konnten die Exilanten dazu beitragen, neue Forschungsrichtungen an den Universitäten zu etablieren? Wie konnten sie dem US-Militär und dem Geheimdienst im Kampf gegen Nazi-Deutschland dienen?

Ein herausragendes Beispiel ist die von dem Wirtschaftswissenschaftler Alvin Johnson 1933 an der New School for Social Research in New York etablierte University in Exile, an der 183 Hochschullehrer forschten und lehrten, darunter Hans Kelsen und Hannah Arendt. Die Uni diente der Politikberatung und dem Ideentransfer von und nach Europa. Nach dem Krieg waren es dann aus den USA zurückgekehrte Intellektuelle wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die in der Bundesrepublik maßgeblich zum Aufbau der Demokratie beitrugen.

Willkommenskultur oder Exzellenzkriterien?

Braucht Deutschland eine neue University in Exile, wie Carola Dietze sie forderte? An der American Academy wurde eher diskutiert, ob ähnliche wissenschaftliche Erträge wie einst in New York heute denkbar wären. Ulrike Albrecht berichtete von „Kämpfen“ in der Alexander von Humboldt-Stiftung, ob man die potenziellen neuen Stipendiaten nicht nach den üblichen wissenschaftlichen Exzellenz-Kriterien messen müsse. Der Streit sei schließlich zugunsten der Willkommenskultur beigelegt worden. „Wir wollen Menschen unterstützen, die verfolgt werden und den Universitäten Gelegenheit geben, zusammen mit ihnen zu lernen“, sagt Albrecht.

Zustimmendes Kopfnicken in der Runde – aber vehementer Widerspruch von Mohammad Mojahedi, iranischer Gastprofessor für Politische Theorie an der Freien Universität. Er sieht in der Willkommenskultur für akademische Flüchtlinge eine „institutionelle Quelle der Stigmatisierung“. Und schlägt eine Alternative vor, der wieder alle zustimmen können. Die Neuankömmlinge bräuchten „recognition, representation and solidarity“. Also Anerkennung durch die Aufnehmenden, die Möglichkeit für die Angenommenen, ihr Wissen und ihre Erfahrung an den Unis einzusetzen und Solidarität.

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