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Eine Szene aus dem Film "Alphabet"

© promo

Alphabet, der neue Film von Erwin Wagenhofer: Freie Bildung, edle Kinder

Erwin Wagenhofers Film „Alphabet“ zeigt Schule als Kreativitätskillerin. Doch seine Gegenbilder sind allzu rosig. Sein Film tut etwas, was man in der Erziehung wahrhaftig nicht tun sollte: Er schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Ja! Die Schule sollte mehr Raum für Kreativität bieten. Und: ja! Die Talente aller Kinder sollten sich gleichberechtigt entfalten. Dreimal ja: Die Welt sollte friedlicher, freier und schöner sein! Alles wahr. Aber muss man deswegen einen solchen Film drehen?

Erwin Wagenhofer tritt in seinem neuen Dokumentarfilm „Alphabet“ (Kinostart am 31. Oktober) mit dem Anspruch auf zu enthüllen, was im Bildungswesen schiefläuft. Mehr noch: warum auf der Welt überhaupt so vieles im Argen liegt. Haben nicht die Investmentbanker, Politiker, Wirtschaftsbosse alle „dieses“ Bildungssystem durchlaufen? Und folgt daraus nicht mit zwingender Logik, dass eine neue Art, Bildung zu praktizieren, auch neue Menschen und eine bessere Welt hervorbrächte?

Starke, symbolische Bilder? Eher platt und plakativ

Im Moment, das suggeriert der Film gleich in den ersten Bildern, gleicht das Bildungssystem einer Wüste: Lange Einstellungen zeigen das kalifornische Death Valley. Aber die Wüste lebt! Am Ende sehen wir das Death Valley nach einem Regenguss blühen und sprießen: Bildung, neu gedacht. Starke symbolische Bilder? Man könnte auch sagen: platt und plakativ.

In seinen früheren Filmen „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“ hat der Dokumentarfilmer Wagenhofer Missstände in der Nahrungsmittelindustrie und der Vermögensverteilung aufgezeigt. Das ist ehrenwert. Das Thema Bildung ist allerdings komplexer, die Motive der Handelnden sind vielschichtiger, von jahrhundertealten Auseinandersetzungen und kulturellen Gegebenheiten geprägt. Da hilft es nicht weiter, mit pauschalen Thesen aufzuwarten – „98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent“, wie es in der Werbung zum Film heißt. Mit demselben Recht könnte man beklagen, dass Babys mit der Zeit ihre Fähigkeit verlieren, alle Laute der Weltsprachen zu bilden, um sich sinnvollerweise auf die Laute ihrer Muttersprache zu konzentrieren. Entwicklung heißt eben auch Spezialisierung. Und im Übrigen: Wer sagt denn, dass allein die Schule am flächendeckenden Verlust der Hochbegabung schuld ist – vielleicht sind’s auch die Hormone? Die Peergroup? Das Leben schlechthin?

Am Anfang zeigt Wagenhofer eine Viertelstunde lang Bilder aus China. Büffelnde, paukende Kinder, übernächtigt, in großen Hörsälen mit Mathe-Massentests gequält, schmerzhaft konzentriert. Das ist für westliche Augen grauenvoll anzusehen und wird auch vom chinesischen Pädagogikprofessor Yang Dongping zu Recht beklagt.

Was sagen kleine büffelnde Chinesen über Europa aus?

Pisa-Koordinator Andreas Schleicher, auf einer Dienstreise in China gefilmt, macht keine gute Figur, wenn er diesen Methoden etwas Positives abzugewinnen versucht. Aber was sagen kleine büffelnde Chinesen über die Wirklichkeit in Europa aus? Für Wagenhofer beweisen die Bilder offenbar, dass „auf der ganzen Welt“ die Kinder durch die Schule zugerichtet und verbildet werden, dass ihnen überall durch Leistungsdruck und Pisa-Testeritis Neugier und Kreativität ausgetrieben werden. Jedenfalls tauchen im ganzen Film keine weiteren Bilder aus Schulen auf (!). Sämtliche deutschen Bildungseinrichtungen werden zeitsparenderweise in einem Brief abgehandelt, den eine 15-jährige Gymnasiastin verliest und in dem sie über ihre Überlastung durch G8 klagt.

Stattdessen erleben wir McKinsey-Nachwuchskräfte, die auf rhetorisch dürftige Weise Leistung, Leistung, Leistung predigen, als hätte es nie Work-Life-Balance-Kurse im Managementtraining gegeben. Diese jungen Damen und Herren in Kostüm und Anzug sollen den Zuschauern vor Augen führen, welch stromlinienförmige Gestalten unserem Bildungs- und Wertesystem entwachsen. Ansonsten sehen wir Männer – nur Männer! – , die dozieren: Ob Hirnforscher Gerald Hüther, der Pädagoge Yang Dongping, der englische Erziehungswissenschaftler Ken Robinson oder der ehemalige Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger: Sie sagen viel Richtiges und gut Gemeintes. Nur konkret wird leider keiner.

Der Film suggeriert: Am besten ist, wir gingen gar nicht zu Schule

Wie soll denn nun eine bessere Bildung aussehen, fragt sich der Zuschauer mit zunehmender Ungeduld? Glaubt man dem Film, wäre es am besten, wir gingen gar nicht in die Schule. Die schönsten Szenen zeigen den „Malort“ von Arno Stern, einem deutsch-jüdischen Emigranten, der in der Nähe von Paris eine idyllische Welt geschaffen hat. Dort können sich Kinder frei entfalten, sie malen mit Hingabe, erleben die Natur und sammeln Erfahrungen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen werden. André Stern, der Sohn des Ehepaars, hat keine Schule besucht, konnte stets seinen Interessen folgen und ist heute Gitarrenbauer: wieder schöne Bilder, warme Farbtöne, eine romantische, medienfreie Welt wie aus dem 19. Jahrhundert.

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Das Beispiel der Familie Stern weckt Bewunderung, lässt sich aber überhaupt nicht auf die Realität der meisten Menschen übertragen. Wie soll sich denn bitte das Kind eines Doppelverdienerpaars in einer engen Stadtwohnung quasi selbst bilden? Wie soll eine Brennpunktschule mit begrenzten Ressourcen Kindern die nötigen Kompetenzen vermitteln, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen? Dazu sagt der Film leider gar nichts.

Eine Einstellung zeigt das Enkelkind der Sterns, wie es Blumen bestaunt. Allen Eltern geht bei solchen Bildern das Herz auf. Die meisten wissen aber, dass dasselbe Kind am nächsten Tag die Blume abreißen und darauf herumtrampeln könnte (pfui), vielleicht würde es sich auch mit seiner Freundin um die Blüte streiten oder gar kloppen (bah, bah, bah). Es ist nicht einmal auszuschließen, dass es später zu McKinsey geht, weil es Macht, Geld und Status geil findet. All das gehört genauso zur menschlichen Natur wie Neugier und Fantasie, Humor und Herzenswärme. Wer so tut, als wäre der Mensch, richtig erzogen oder frei gelassen, stets edel, hilfreich und gut, der entwertet letztlich die Anstrengungen all derer, die versuchen, in die echte Welt mit ihren real existierenden Menschen etwas mehr Fantasie und Freude zu bringen.

Begnadete Pädagogen begeistern Kindern - das gibt es

Wagenhofer hätte ja auch ganz andere Gegenbilder zur Drillschule zeigen können: Wie begnadete Pädagogen Kinder an Dinge heranführen, statt sie autoritär zu belehren, wie es ihnen gelingt, junge Menschen zu begeistern – und wie sie sie dazu bringen, sich auch schwierige Lerninhalte anzueignen, die keinen Spaß machen, aber leider nötig sind. Solche Bilder gibt es, auch in ganz normalen Schulen. Manche Schulen, manche Lehrer, und seien sie in Finnland, können das besonders gut – sie lohnt es zu zeigen, von ihnen lässt sich lernen, sie können Wege aufzeigen, wie Schule in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft Freiräume eröffnen und Kreativität fördern kann.

Diese Chance hat Wagenhofer vertan. Stattdessen tut er, was man in der Erziehung wahrhaftig nicht tun sollte: Er schüttet das Kind mit dem Bade aus. Er malt das Paradies an die Wand und guckt sich die Realität nicht genau genug an. Weder leben wir heute in der Wüste noch werden wir jemals im Garten Eden leben. Bildung spielt sich, um im Bild zu bleiben, viel eher in dem Land dazwischen ab: wo gesät, gepflegt und ausprobiert und immer auch was falsch gemacht wird. Wo es neben allem Schönen auch Sachzwänge gibt und Dinge, die sich nicht beeinflussen lassen. Nur dieses Land ist spannend.

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