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Altern: Rezept für den Jungbrunnen

Unsere Lebenserwartung steigt seit 150 Jahren – und eine Grenze ist nicht in Sicht. Heute Geborene dürfen erwarten, 102 Jahre alt zu werden, sagen Forscher.

Einhundert Jahre sind eine lange Zeit, aber die meisten Kinder, die heute zur Welt kommen, werden so lange leben. Jedenfalls wenn James Vaupel recht behält. Vaupel ist Direktor am Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock. Er hat errechnet, wie viel Lebenszeit unseren Kindern vermutlich zur Verfügung stehen wird. Die Hälfte aller Neugeborenen des Jahres 2007 in Deutschland dürfen erwarten, 102 Jahre alt zu werden, schreibt er diesen Monat im Fachblatt „Lancet“. Japanische Kinder dürfen sogar mit 107 Jahren rechnen.

Was unglaublich klingt, ist für Vaupel völlig klar. „Wir haben lediglich einen Trend in die Zukunft fortgeschrieben“, sagt er. Denn seit 1840 steigt die Lebenserwartung in jedem Jahrzehnt um zweieinhalb Jahre. Das bedeutet, dass wir jeden Tag sechs Stunden Lebenserwartung hinzugewinnen.

Es gebe keinen Grund anzunehmen, dass der Trend demnächst aufhöre, sagt Vaupel. „Immer wieder haben Forscher gesagt, es gebe eine klare Grenze bei der Lebenserwartung und jedes Mal hat die Realität sie widerlegt.“ Im Fachmagazin „Science“ hat Vaupel eine Abbildung veröffentlicht, die das anschaulich zeigt: Eine gerade Linie steigt durch die Jahrzehnte immer weiter an und durchbricht eine angebliche Altersgrenze nach der nächsten. „Wissenschaftler haben immer geglaubt, die Grenze sei fast erreicht, aber offensichtlich haben sie damit nie recht gehabt. Warum sollte es jetzt stimmen?“

Und was ist mit all den Unwägbarkeiten der Zukunft? Krieg und Klimawandel, medizinischen Fortschritten und gesellschaftlichen Rückschritten? „Wir haben uns mit Forschern verschiedener Fachrichtungen zusammengesetzt und all diese Faktoren diskutiert“, sagt Vaupel. Am Ende hätten sie als plausibelste Prognose angenommen, dass all diese Entwicklungen sich in etwa die Waage halten. Viele Biologen hielten die Annahme für äußerst pessimistisch.

Kein Wunder: Eine Pille, die dem Menschen zusätzliche Jahre oder sogar Jahrzehnte spendiert, klingt zwar nach Science Fiction, aber Wissenschaftler kommen der Vision immer näher. So berichtete im Juli eine Gruppe amerikanischer Forscher, dass sie eine Substanz gefunden haben, die die Lebensspanne von Mäusen dramatisch verlängert. Das Erstaunlichste: Die Mäuse bekamen die Substanz erst im Alter von 600 Tagen verabreicht. Das entspreche in etwa einem 60-jährigen Menschen, schreiben die Forscher im Fachblatt „Science“. Die späte Medizin genügte, um das Leben der Mäuse um acht bis 14 Prozent zu verlängern. Rapamycin heißt das Wundermittel. Es verdankt seinen Namen den Osterinseln, die in der Inselsprache Rapa nui heißen. Dort wurde die Substanz gefunden, hergestellt von einem Bakterium in einer Erdprobe.

Wie genau Rapamycin funktioniert, ist noch nicht klar. Sicher ist nur: Das Molekül hemmt ein Eiweiß namens „mTOR“, das normalerweise das Zellwachstum und die Übersetzung des Erbguts in Proteine anregt. Möglicherweise lässt die Hemmung diese Prozesse langsamer und sparsamer ablaufen. „Für den Menschen ist aber noch nicht gezeigt, dass die Substanz das Leben verlängert“, sagt Andreas Pfeiffer vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung.

Peter Herrlich, Leiter des Leibniz-Instituts für Altersforschung, warnt gesunde Menschen davor, das Mittel zu verwenden. „Wer das nimmt, lebt nicht länger, sondern stirbt früher.“ Dabei ist Rapamycin Ärzten keineswegs unbekannt. Es ist ein zugelassenes Medikament. Nach Organtransplantationen wird es Patienten gegeben, um das menschliche Immunsystem zu hemmen. So will man verhindern, dass das neue Organ abgestoßen wird. Die Patienten werden dadurch aber auch anfälliger für Infektionen. „Bei Mäusen funktioniert die Lebensverlängerung nur, weil sie in Labors in bestimmten Räumen leben, die keimfrei gehalten werden“, sagt Herrlich.

Dass Rapamycin demnächst auch als lebensverlängernde Pille auf den Markt kommt, ist also eher unwahrscheinlich. Aber die Ergebnisse bei Mäusen zeigen, dass sich auch die Lebensspanne von Säugetieren deutlich ausdehnen lässt. Und es ist denkbar, dass Rapamycin so abgewandelt werden kann, dass es das Leben verlängert, ohne gleichzeitig das Immunsystem lahmzulegen.

Und Rapamycin ist nicht die einzige Substanz, für die sich Altersforscher interessieren. Eine andere heißt Resveratrol. Das Molekül wird von zahlreichen Pflanzen, wie Weintrauben und Knöterich, produziert. 2003 konnte der Molekularbiologe David Sinclair zeigen, dass Resveratrol das Leben von Hefepilzen verlängert. Offenbar schaltete das Molekül ein Gen namens „sir2“ ein, das für das längere Leben sorgte. Sinclair gelang es, auch die Lebensspanne von Fruchtfliegen und dem Wurm Caenorhabditis elegans mit Resveratrol zu verlängern. Auch bei Säugetieren kommen Gene vor, die sir2 bei der Hefe entsprechen. Beim Menschen sind es gleich sieben solche Sirtuine.

Diese und andere Ergebnisse haben zu einem Umdenken unter Forschern geführt. Vaupel glaubt sogar, die letzten Jahre hätten das Feld revolutioniert. „Die meisten Wissenschaftler haben immer gedacht, es gebe so etwas wie einen natürlichen Tod“, sagt er. Der Gedanke ist uralt. Schon Aristoteles glaubte, der Mensch sei wie ein Feuer, dem im Alter das Brennholz ausgehe. Jeder Mensch habe eine gewisse Menge Holz zur Verfügung und wenn dies aufgebraucht sei, sterbe er – an Altersschwäche. Inzwischen sei klar, dass die meisten alten Menschen nicht sterben, weil sie eine natürliche Grenze erreicht haben, sagt Vaupel.

Das belegt auch die Statistik: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen 62 Prozent der Lebensverlängerung auf verringerte Sterblichkeit bei Kindern zwischen 0 und 14 Jahren zurück. Inzwischen lässt sich in der Altersgruppe nicht mehr viel holen. Zwischen 1990 und 2007 gingen 79 Prozent der verlängerten Lebenserwartung auf das Konto der Über-65-Jährigen. „Früher haben wir das Leben von Kindern gerettet, heute retten wir das Leben von Menschen über 65“, sagt Vaupel.

Die letzten Jahre hält er sogar für besonders wichtig. Auch mit 80, 85 oder 90 könne man noch einiges für ein längeres Leben tun. „Selbst wenn sie schon so alt sind, geraucht haben, ein bisschen übergewichtig sind: Reißen Sie sich zusammen, ändern Sie ihr Leben und Sie erhöhen Ihre Chancen deutlich, noch älter zu werden.“

Aber wie lange wollen wir überhaupt leben? Jeanne Calment starb am 4. August 1997 in einem Altersheim in Südfrankreich – im Alter von 122 Jahren. Sie erlebte mit, wie ihre Tochter mit 36 Jahren an einer Lungenentzündung starb, zog daraufhin ihr Enkelkind groß, erlebte 1946, wie ihr Mann an einer Vergiftung starb und musste auch noch den Tod ihres Enkels verkraften, der 1963 den Folgen eines Autounfalls erlag. Zum Ende ihres Lebens saß Calment im Rollstuhl, war blind und fast taub. Alternsforscher Herrlich erinnert sich auch an seine Schwiegermutter: „Sie hat bei uns im Haus gelebt und ist mit 95 Jahren gestorben. In ihren letzten Jahren hat sie gesagt: Jetzt ist aber auch mal gut, ich habe lang genug gelebt.“ Vielleicht werden also auch deswegen nur wenige Menschen 100 Jahre alt, weil sie das irgendwann gar nicht mehr wollen.

Vaupel glaubt das nicht. Die meisten Hundertjährigen seien sehr glücklich, sagt er. „Solange ich gesund bin, würde ich auch gerne viel älter als hundert Jahre werden.“ Man brauche aber sicher Hobbies und eine gute Bildung, um die Zeit auch zu füllen. Einhundert Jahre sind eine lange Zeit. Aber wer sich vornimmt, alle Klassiker zu lesen, dem ist sie wahrscheinlich noch zu kurz.

 Kai Kupferschmidt

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