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© - Foto: Doris Spiekermann-Klaas

Alternsforschung: Gewonnene Jahre

Die Deutschen werden immer älter und sind länger leistungsfähig. Experten der Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ empfehlen unter anderem, das negative Altersbild der Gesellschaft revidieren und neue Wege bei der Weiterbildung sowie im Arbeitsleben zu gehen.

Ihren Sechzigsten wollen viele lieber nicht groß feiern – weil sie sich noch wie 50 fühlen. Fragt man, wann denn das Alter beginne, entscheidet sich die Mehrheit für Mitte 70. Andererseits haben die meisten schon mit 60 dem Erwerbsleben den Rücken gekehrt. Durch die gefühlte Verjüngung ergibt sich „subjektiv die Perspektive eines 25 Jahre dauernden Ruhestands vor dem Beginn des eigentlichen Alters, das durch nachlassende Kräfte, Krankheit und Todesnähe gekennzeichnet ist“: So zugespitzt sieht die Rechnung aus, die die Experten der Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ in ihrem abschließenden Empfehlungsband präsentieren, der jetzt unter dem Titel „Gewonnene Jahre“ erschienen ist.

Die 23 Wissenschaftler aus zehn Disziplinen waren 2005 von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) beauftragt worden, die verwirrenden Befunde zum Thema zusammenzutragen und daraus Empfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten. Finanziert wurde das Großprojekt von der in Zürich ansässigen Jacobs Foundation, initiiert wurde es vom inzwischen verstorbenen Berliner Alternsforscher Paul Baltes, der seinerzeit Vizepräsident der Leopoldina war. Der Empfehlungsband kann als Krönung einer dreijährigen Teamarbeit gelten, die sich in acht Materialienbänden zu Themen von Arbeitsmarkt bis Gesundheit im Alter niederschlug.

Die Forscher können also das ganze Gewicht der umfänglichen Forschung in die Waagschale werfen, wenn sie Klischees und Legenden zu Leibe rücken. So ist die demografisch alternde nicht automatisch eine kränkere Gesellschaft. „Der Beginn der Schwächephase im hohen Alter kann hinausgeschoben werden, die Phase der Hilfsbedürftigkeit verkürzt sich gegenwärtig“, sagte der Historiker Jürgen Kocka vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, Sprecher der Akademiengruppe, dem Tagesspiegel. Diese Entwicklung bezeichnen Gesundheitswissenschaftler als „Kompression der Morbidität“. Altersgleiche Senioren sind allerdings keine homogene Gruppe, denn mit zunehmendem Alter driften wir körperlich und geistig weiter auseinander.

Einheitlich sind allenfalls Vorstellungen über das Alter – und die hinken der Entwicklung deutlich hinterher. „Sie stammen aus früheren Jahrhunderten, in denen das Leben sehr viel kürzer war und man sich wesentlich früher auf Schwächung und Rückzug einstellen musste“, sagt Kocka. Auch die starre Fixierung auf die Rentenzeiten, die in der Sozialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung haben, sei aus diesem Grund nicht angemessen. „Unsere Gesellschaft wird es sich auf die Dauer nicht leisten können, ihre Mitglieder so lange zu alimentieren.“ Die Vorstellung, Rentner müssten den Rest ihres Lebens mit Ausruhen verbringen, trage zudem dazu bei, sie gesellschaftlich auszugrenzen.

„Wenn man nicht mehr arbeitet, wird man leicht unsichtbar“, sagt die Psychologin Ursula Staudinger, Dekanin des Center on Lifelong Learning and Institutional Development der Jacobs University Bremen und stellvertretende Sprecherin der Gruppe. Der Forscherin, die sich auf die Psychologie der gesamten Lebensspanne spezialisiert hat, macht zudem Sorgen, dass brachliegende Fähigkeiten nachweislich schnell verkümmern. „Neue Herausforderungen tragen dagegen auch im Alter zur weiteren Entwicklung bei.“

Staudinger und ihre Kollegen plädieren aber nicht dafür, die Schutzfunktion des Ruhestands aufzugeben – oder gar die 60-Stunden-Woche von Managern zum Modell für alle Mitglieder der Gesellschaft zu erklären. Auch zivilgesellschaftliches Engagement und Bildung sollen Raum finden. „Es ist wichtig, Lernen, Arbeiten und Muße in allen Phasen des Erwachsenenlebens in flexible Balancen zu bringen“, lautet die Empfehlung. Auf diese Weise soll nicht zuletzt die „Rushhour des Lebens“ aufgelockert werden, in der Jüngere versuchen, Karriere und kleinere Kinder miteinander zu vereinbaren. „Wir möchten die scharfen Grenzziehungen zwischen Ausbildungszeit in der Jugend, Erwerbstätigkeit und Alter ein wenig verflüssigen“, erklärt Kocka. Politik, die Senioren nütze, müsse ohnehin in der frühen Jugend ansetzen, bei den Alten von morgen. Denn die Voraussetzungen dafür, dass jemand dem Gebot und den Chancen des lebenslangen Lernens folgen kann, werden früh erworben, sagt Staudinger. Im schlimmsten Fall wird die Lernlust einem Menschen schon in der Schule gründlich verdorben.

„Lernen ist nicht nur dann erforderlich, wenn man auf eine höhere Entgeltstufe kommen möchte“, mahnen die Autoren. Überhaupt sollte die Erwerbsbiografie nicht automatisch als Erklimmen einer Karriereleiter gesehen werden: Es sollte nach Ansicht der Wissenschaftler stattdessen üblicher werden, innerhalb eines Unternehmens ohne Beförderung den Job zu wechseln oder sogar mit 40 oder 50 noch einmal in einem anderen Beruf völlig neu zu beginnen. Was Flexibilität und berufliche Neuanfänge betrifft, so würden sich die Männerbiografien der Zukunft dann den Lebensläufen heutiger Frauen angleichen. „Unsere Arbeitswelt verändert sich heute in einer Art, dass herkömmliche Gender-Unterschiede ohnehin verblassen“, kommentiert Kocka.

„An die Übergangsgenerationen wird das hohe Anforderungen stellen“, sagt Staudinger mit Blick auf die heute 45- bis 65-Jährigen. Für sie würden die Spielregeln genau in dem Moment geändert, in dem sie sich auf den Ruhestand vorbereiten oder beginnen, darüber nachzudenken. Das aktive Leben aber sei meist zugleich das längere und das gesündere – ob das Engagement nun seinen Schwerpunkt eher im Beruf, im Ehrenamt oder auch in der Familie hat, betont Staudinger. „Hier gibt es noch viel Entwicklungsspielraum für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft.“ Die Akademiengruppe wolle mit ihren Empfehlungen auf dieses Potenzial des Alters hinweisen und dazu beitragen, dass es umgesetzt wird.

Die Empfehlungen sparen auch die letzte Phase des Lebens nicht aus und plädieren dafür, Sterben und Tod „in die Mitte der Gesellschaft zu holen“. „Wir wären ja reichlich blauäugig, wenn wir nicht zugeben würden, dass Ältere dem Tod näher sind“, sagt Kocka. Ein Argument gegen Lebendigkeit lässt sich daraus nicht ableiten.

Adelheid Müller-Lissner

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