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Gewonnene Jahre. Siebzigjährige haben heute den gleichen Fitnessgrad wie Fünfundsechzigjährige vor dreißig Jahren. Die gesundheitliche und ökonomische Lage der „jungen Alten“ ist dabei viel besser als oft angenommen. Forscher staunen zudem über die Fähigkeit des Menschen, sich bis ins hohe Alter immer wieder an neue Situationen anzupassen. Foto: vario

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Altersforschung: Länger jung bleiben

Neue Ergebnisse der Berliner Altersstudie zeigen: Erst im „Vierten Alter“ sinkt die Lebenszufriedenheit.

Alte Menschen fühlen sich heute im Durchschnitt dreizehn Jahre jünger, als sie sind. Und je jünger sie sich fühlen, desto älter werden sie noch. Im höheren Alter ist jemand keineswegs weniger glücklich und zufrieden als in seinen jüngeren Jahren, trotz vieler Verluste und schlechterer Lebensumstände. Das Wohlbefinden – ein zentrales Kriterium „erfolgreichen Alterns“ – kann sich sogar noch verbessern: bei einem zufriedenstellenden Gesundheitszustand, mentaler Fitness und guten menschlichen Beziehungen. Nur in den letzten Jahren vor dem Tod sinkt wegen zunehmender Einschränkungen die Lebenszufriedenheit.

Dies sind nur einige von vielen neuen oder wissenschaftlich bestätigten Befunden der „Berliner Altersstudie (BASE)“. Sie wurde international berühmt wegen der Entkräftung negativer Vorurteile über „das“ Alter, wegen ihrer umfassenden Sicht, methodischen Qualität und einmaligen Besonderheiten. Denn sie legt das Schwergewicht auf das höhere und höchste Alter. Die 516 Teilnehmer, die sich dreizehnmal anderthalb Stunden lang nach Strich und Faden untersuchen und befragen ließen, waren zu Beginn dieser interdisziplinären Studie (1989) zwischen siebzig und hundertdrei Jahre alt.

Die Gerontologen (nicht „Alters“- sondern „Alternsforscher“, weil sie den Prozess des Alterns ins Visier nehmen), hatten sich bis dahin meist auf die „jungen Alten“ vom siebenten Lebensjahrzehnt an beschränkt und die immer zahlreicher werdenden Hochbetagten außen vor gelassen. Die Ergebnisse sind nach Einschätzung der Forscher repräsentativ für alternde Großstädter, fallen allerdings durch unvermeidliche Selektionseffekte etwas zu positiv aus. Die – wunschgemäß sehr bunt gemischten – Teilnehmer hatte man über das Einwohnermeldeamt nur in West-Berlin rekrutiert. In der Wende-Zeit war es so rasch nicht möglich, die Studie auf Ost-Berlin zu erweitern.

Um den unterschiedlichen Aspekten des Alterns – körperlichen, geistigen, seelischen, sozialen – gerecht zu werden, beteiligte man an diesem großen Forschungsprojekt mehrere Disziplinen. Die anfangs dreißigköpfige „Arbeitsgruppe Altern und gesellschaftliche Entwicklung“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (damals noch „Akademie der Wissenschaften zu Berlin“) gliederte sich in vier Forschungseinheiten: Innere Medizin/Geriatrie, Psychiatrie, Psychologie, Soziologie/Sozialpolitik.

Das wissenschaftliche Großprojekt scheint die Langlebigkeit seiner Studienobjekte anzustreben: In diesem Jahr erschien zum dritten Male eine ausführliche und mit 748 Seiten entsprechend dickleibige Zwischenbilanz der Forschungsergebnisse unter dem Titel „Die Berliner Altersstudie“ im Akademie Verlag Berlin. Die erste Ausgabe von 1996 wurde damit aktualisiert und vor allem ergänzt: um Befunde der Verlaufsuntersuchung („Längsschnittstudie“), die sich seit 1995 der ursprünglichen Momentaufnahme („Querschnittsstudie“) anschloss.

„Hoffnung mit Trauerflor“ – so charakterisierte Paul Baltes, der Psychologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin war, in Vorträgen und Interviews die grundlegenden Resultate der Berliner Altersstudie. „Hoffnung“, weil wir nicht nur länger leben, sondern auch länger „jung“ bleiben: Wir haben in der Zeitspanne einer Generation fünf gute Jahre ohne wesentliche Altersleiden gewonnen, schloss Baltes schon 1999 aus Daten der Studie. Das bedeutet, mit siebzig heute den gleichen Fitnessgrad zu haben wie vor dreißig Jahren mit fünfundsechzig.

Die Studie ist zwar ein Projekt der Grundlagenforschung, kann aber weitreichende praktische Konsequenzen haben: Baltes selbst folgerte zum Beispiel aus dem Befund der gewonnenen aktiven Jahre, dass das Renteneintrittsalter heraufzusetzen ist.

Von „Trauerflor“ sprach er, weil wir den Gewinn nur im „Dritten Alter“ haben. Das geht – individuell sehr unterschiedlich – mit Mitte achtzig ins „Vierte Alter“ über, in dem die Altersgebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit beginnt. Allein die Tatsache, dass in den Neunzigern fast jeder zweite dement wird, lässt nicht nur die Gerontologen zweifeln, ob es wirklich wünschenswert ist, wenn die Lebenserwartung kontinuierlich weiter steigt.

Die gesundheitliche und sozioökonomische Lage der „jungen Alten“ bis Anfang achtzig aber ist laut Berliner Altersstudie weit besser als angenommen. Das Klischee von den armen, kranken, einsamen Alten wurde widerlegt. Nur drei Prozent leben unter der Armutsgrenze, weniger als zehn Prozent in Heimen, zu Hause allerdings 60 Prozent allein, drei Viertel davon Frauen. Viermal mehr Frauen als Männer erreichen ein sehr hohes Alter, obwohl sie mehr als gleich alte Männer unter Gesundheitsproblemen leiden.

Psychische Störungen wie zum Beispiel Depressionen haben alte Menschen nicht häufiger als jüngere. Aber bei 96 Prozent der Untersuchten fand man mindestens eine Krankheit, bei 30 Prozent sogar fünf und mehr. Trotzdem fühlten sich zwei Drittel subjektiv gesund und äußerten sich durchaus zufrieden mit ihrem Leben. Die Forscher staunten über die noch lange andauernde psychische Fähigkeit, sich der veränderten Situation anzupassen und den „Stress des Alters“ zu bewältigen. Erst bei Hochbetagten und mit zunehmendem geistigen und körperlichen Verfall versagt diese große Anpassungsfähigkeit.

In der Längsschnittstudie mit überlebenden Teilnehmern der Ersterhebung wurde deren individueller Alternsprozess in sieben Untersuchungen und Befragungen (bis 2009) verfolgt. Es bestätigte sich, dass Menschen sehr unterschiedlich altern und dass sie noch im hohen Alter sehr verschieden voneinander, aber sich selbst noch immer gleich sind: Die Eigenschaften und Befindlichkeiten bleiben bis ins hohe Alter konstant. Wer relativ gesund, sozial gut eingebunden und zufrieden ist, erhält sich seine kognitive Leistungsfähigkeit länger. Viele können sie sogar noch verbessern, wie Trainingsstudien zeigten. Gesundheit und Wohlbefinden werden von der Furcht negativ beeinflusst, zunehmend abhängig von anderen zu werden.

Die Alternsforscher betonen, dass Altern systemisch ist: Alles hängt mit allem zusammen; man kann das physische, psychische und soziale Altern nicht getrennt voneinander betrachten. Deshalb war die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Berliner Altersstudie so fruchtbar. Wie viele Einzelstudien und Publikationen sie nach sich zog, ist dem Anhang des neuen Zwischenberichts zu entnehmen.

Nun beginnt auch eine zweite Berliner Altersstudie, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, mit mehr als 2200 neuen Probanden. Untersucht werden die körperliche und die geistige Gesundheit über die Lebensspanne, wie aber auch die sozioökonomischen Lebensbedingungen. Die Ergebnisse dürften das Prinzip der Gerontologen für unsere alternde Gesellschaft durchsetzen helfen: „Nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben.“

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