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Überreste. Ein winziger Knochen genügte für die Analyse des Erbguts.

© EVA Leipzig

Anthropologie: Neandertalers Nachbarn

Das Erbgut eines Denisova-Mädchens hilft dabei, die Entwicklung der Menschheit zu rekonstruieren. Jetzt präsentieren Leipziger Forscher neue Ergebnisse.

Der winzige Knochen aus dem kleinen Finger des Mädchens ist nicht einmal so groß wie der Fingernagel einer Frau. Doch das Fossil aus der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens war für Matthias Meyer, Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig und ihre Kollegen ein Glückstreffer. „Wir können das jahrtausendealte Erbgut darin so genau wie die DNS heute lebender Menschen analysieren“, sagt Meyer. Damit ist das internationale Team den Beziehungen zwischen diesen vorzeitlichen Menschen, den Neandertalern und den modernen Menschen auf der Spur.

Bisher waren Analysen von altem Erbgut weniger präzise, berichten die Wissenschaftler im Fachjournal „Science“. 2010 konnten sie nur sagen, dass sie den Fingerknochen einer bisher unbekannten Menschenlinie untersuchten. Die Denisova-Menschen lebten ungefähr zur selben Zeit wie Neandertaler und moderne Menschen, so wie die kleinwüchsigen Flores-Menschen von der gleichnamigen Insel Indonesiens. Sie sind die bisher einzige Gruppe längst ausgestorbener Menschen, die ausschließlich durch die Untersuchung ihres Erbguts entdeckt wurde.

Die Forscher staunten, wie sauber das isolierte Erbgut war. Normalerweise siedeln sich auf solchen Überresten rasch Bakterien an. „Meist stammen 99 Prozent der isolierten DNS daher von Mikroorganismen, dazu kommt oft Erbgut aus anderen Quellen“, berichtet Meyer. „Der Fingerknochen des Denisova-Menschen enthielt dagegen ungefähr 70 Prozent DNS des verstorbenen Individuums.“

Um diesen Glücksfall effektiv zu nutzen, entwickelten die Leipziger eine neue Methode. DNS liegt in Form von zwei Strängen vor, von denen einer das Spiegelbild des anderen ist. Um Erbgutfragmente analysieren zu können, vermehren Forscher normalerweise Stücke dieses Doppelstrangs. Meyer und seine Kollegen trennten sie jedoch zunächst in die beiden Einzelstränge. „Theoretisch hatten wir damit doppelte Chancen“, erklärt Meyer. Tatsächlich erwies sich die neue Methode als erheblich besser.

Die größere Genauigkeit zahlte sich aus: Während 2010 jede Stelle im Denisova-Erbgut nur 1,9-mal analysiert wurde, nimmt die neue Methode jedes DNS-Stückchen 31-mal unter die Lupe und ist damit nahezu fehlerfrei. Im Vergleich mit heute lebenden Menschen zeigten sich ungefähr hunderttausend Veränderungen im Erbgut des Fossils. Sie ereignen sich im Laufe der Zeit zufällig, aus ihrer Zahl können die Forscher daher schließen, dass die Besitzerin des Fingerknochens vor rund 74 000 bis 82 000 Jahren lebte. Diese Altersbestimmung passt zu den Ergebnissen russischer Archäologen, nach denen die Denisova-Höhle in den letzten 125 000 Jahren immer wieder von Frühmenschen bewohnt wurde.

Einige Unterschiede zwischen Denisova- und modernen Menschen betreffen Gene, die für Gehirnfunktionen und die Entwicklung des Nervensystems wichtig sind. Das Erbgut zeigte den Forschern auch, dass Denisova-Menschen und andere Linien gemeinsame Kinder hatten – denn sie teilen sich etwa drei Prozent ihres Erbgutes mit Menschen in Papua-Neuguinea. Im Erbgut von Europäern lassen sich die Spuren der Denisova-Menschen dagegen kaum nachweisen. Meyer vermutet, dass sie nicht nur in Sibirien, sondern auch im Süden Asiens, nicht aber in Europa gelebt haben.

Ähnlich wie die Neandertaler bevölkerten sie die Erde wahrscheinlich lange Zeit nur in kleinen Gruppen. Ob sie sich tatsächlich über den riesigen Osten Asiens verteilten, ist noch unklar. Vielleicht wanderten die Denisova-Menschen auch in wärmeren Epochen der damaligen Eiszeit nach Norden bis zur Denisova-Höhle, zogen sich aber in den Süden zurück, sobald es wieder kalt wurde. Um das Schicksal der verschiedenen Menschenlinien genauer zu untersuchen, hoffen Meyer, Pääbo und ihre Kollegen jetzt auf weitere Glückstreffer-Fossilien.

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