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Foto: Eso

© ESO/L. Calçada

Astronomie: Europas neues Himmelsauge

Auf einem Berg in der Atacamawüste in Chile wollen europäische Forscher das größte Teleskop der Welt errichten. Es soll erkunden, was im Universum geschah, bevor sich Sterne und Galaxien bildeten.

Von Rainer Kayser, dpa

Anfang des 17. Jahrhunderts richtete Galileo Galilei das neu erfundene Fernrohr an den Himmel und revolutionierte die Himmelskunde: Er entdeckte Berge auf dem Mond, Flecken auf der Sonne, Monde des Planeten Jupiter und vieles mehr. Seither lebt die Erforschung des Weltalls von der Weiterentwicklung der Teleskope. Jede neue, größere Fernrohrgeneration führte zu neuen Umwälzungen.

In den 1990er Jahren etwa entstanden überall auf der Welt neue Großteleskope mit sechs bis zehn Meter großen Hauptspiegeln. Seit 1993 liefert außerdem das Weltraumteleskop Hubble scharfe Bilder aus der Erdumlaufbahn. Die astronomischen Revolutionen ließen nicht lange auf sich warten: 1995 spürten die Schweizer Himmelsforscher Michel Mayor und Didier Queloz erstmals einen Planeten auf, der einen sonnenähnlichen Stern umkreist – und starteten damit eine weltweite Jagd auf „Exoplaneten“. Inzwischen sind über 850 Planeten bei anderen Sternen bekannt und nahezu täglich werden es mehr.

Eine andere, völlig unerwartete Entdeckung rüttelte gar an den Grundpfeilern des kosmologischen Weltbilds. Gleich zwei Forschergruppen meldeten 1998 und 1999, dass die Expansion des Weltalls sich nicht, wie erwartet, verlangsamt, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt. Eine geheimnisvolle „Dunkle Energie“ ist hier am Werk, die 74 Prozent der Gesamtmenge an Masse und Energie im Kosmos ausmacht.

Neue Erkenntnisse werfen neue Fragen auf und wecken neue Begehrlichkeiten. Inzwischen geht es den Astronomen nicht mehr nur um die Entdeckung neuer Planeten, sondern um die Beobachtung ihrer Atmosphären und ihres Klimas. Das große Ziel: Die Beobachtung eines erdähnlichen Planeten in der lebensfreundlichen Zone eines Sterns, der unserer Sonne ähnelt. Eine Atmosphäre mit hohem Sauerstoffgehalt wäre ein Indiz für die Existenz von Leben auf der fernen Welt – wir wären nicht allein im All.

Die dunkle Energie ist gegenwärtig das wohl größte Rätsel der Physik. Die mysteriöse Substanz dominiert den Kosmos – aber ihre physikalische Beschaffenheit ist völlig unbekannt. Handelt es sich bei ihr um eine fundamentale Eigenschaft des Raumes, eine Art innerer Spannung? Oder ist sie ein bislang unbekanntes Feld, das vielleicht sogar räumlich und zeitlich veränderlich ist? Von der Antwort auf diese Frage hängt unter anderem das künftige Schicksal des Universums ab: Wenn die Expansion des Weltalls sich unaufhaltsam beschleunigt, könnte sie in ferner Zukunft alle Strukturen im Kosmos zerreißen.

Selbst mit den derzeit größten Teleskopen der Welt lassen sich diese neuen Fragen nicht beantworten. Deshalb träumen die Astronomen seit Anfang des 21. Jahrhunderts von der nächsten Fernrohrgeneration. Die Verwirklichung dieses Traums ist in greifbare Nähe gerückt: Die Europäische Südsternwarte (ESO) plant ein Teleskop mit einem Spiegeldurchmesser von 39 Metern. Dagegen wirken die derzeit weltgrößten Fernrohre mit Spiegeln, die acht bis zehn Meter messen, wie Zwerge.

Der Grund für den Größenwahn ist simpel: Je größer der Spiegel, desto mehr Licht sammelt ein Fernrohr. Und je mehr Licht ein Fernrohr sammelt, desto schwächere Himmelskörper können die Astronomen beobachten: neben gleißenden Sternen schwach glimmende Planeten, explodierende Sterne in weit entfernten Galaxien, die ersten Sternsysteme, die sich nach dem Urknall im Kosmos gebildet haben. Ein 39-Meter-Spiegel empfängt 23-mal mehr Licht als der 8-Meter-Spiegel eines der vier „Very Large Telescopes“ der ESO.

Ursprünglich hatte die ESO noch gewaltigere Pläne: Ein „Overwhelmingly Large Telescope“, kurz OWL, sollte mit einem 100 Meter großen Spiegel auf lange Zeit alles in den Schatten stellen. Doch erste Designstudien zeigten, dass das OWL zu ambitioniert war: zu teuer und zu komplex bei den derzeitigen technischen Möglichkeiten. Ebenso verworfen wurde Euro-50, ein Entwurf mit einem 50-Meter-Spiegel. Im Dezember 2006 fiel die Wahl auf ein Fernrohr der 40-Meter-Klasse, das „European Extremely Large Telescope“, kurz E-ELT.

Ein Spiegel dieser Größe lässt sich nicht mehr in einem Stück produzieren. Zum einen treten bei der Abkühlung eines so großen Glasblocks starke innere Spannungen auf, die zu Rissen führen. Zum anderen wäre ein monolithischer Spiegel zu dick. Das Gesamtgewicht wäre so gewaltig, dass eine mit hoher Präzision bewegliche Lagerung nicht mehr möglich wäre.

Wie bei den meisten heutigen Großteleskopen besteht der Hauptspiegel des E-ELT deshalb aus vielen kleinen Spiegelsegmenten. Die 798 sechseckigen Teilspiegel sind jeweils 1,4 Meter groß, aber nur 5 Zentimeter dick. Ein weiterer Vorteil dieses Designs: Aufgrund der großen Zahl baugleicher Spiegel verringern sich die Produktionskosten erheblich. Jeweils drei Motoren pro Segment sorgen dafür, dass alle zusammen stets eine perfekte Spiegelfläche bilden. Die Anforderungen an die Motoren sind gewaltig: Bei Stellwegen von bis zu 15 Millimetern müssen die Positionen auf weniger als zwei Nanometer genau eingestellt werden, zwei Millionstel Millimeter, das ist an der Grenze des technisch Machbaren.

Ein großes Problem bei astronomischen Beobachtungen vom Erdboden aus ist die Unruhe der Luft. Warme und kalte Luftmassen bewegen sich gegeneinander und sorgen so dafür, dass sich entlang des Lichtwegs der Brechungsindex der Luft ständig ändert. Das Resultat ist das bekannte Blinken der Sterne – im Fernrohr sichtbar als waberndes Bild. Die Luftunruhe verschmiert alle Einzelheiten über eine Fläche, die viel größer ist als das theoretische Auflösungsvermögen großer Teleskope.

Um das Problem zu verringern, versuchen die Astronomen, einen möglichst großen Teil der Atmosphäre unter sich zu lassen. Optimal ist natürlich eine Stationierung im Weltall wie beim Hubble Space Telescope. Doch das ist teuer und erschwert die Wartung des Teleskops. Deshalb stehen Großteleskope auf hohen Bergen in Regionen mit einer möglichst stabilen Wetterlage, die eine maximale Zahl klarer Nächte pro Jahr bieten.

Ihr erstes großes Observatorium errichtete die ESO auf dem 2400 Meter hohen La Silla am Rande der Atacama-Wüste in Chile. Die Atacama-Wüste ist eine der trockensten Gegenden der Erde – dies garantiert eine extrem geringe Luftfeuchtigkeit. Neben klarer Sicht ermöglicht dies den Astronomen auch, mit ihren Instrumenten in den Infrarotbereich vorzustoßen. Wasserdampf absorbiert Wärmestrahlung und behindert deshalb Beobachtungen in diesem Bereich.

Für das um die Jahrtausendwende errichtete Very Large Teleskope mit seinen vier 8-Meter-Spiegelteleskopen plus vier Hilfsteleskopen war auf dem La Silla kein Platz mehr. Das zweite Observatorium der ESO entstand deshalb auf dem 2635 Meter hohen Cerro Paranal, ebenfalls in der Atacama-Wüste gelegen. Und für das gewaltige E-ELT mussten die Astronomen wieder auf die Suche nach einem geeigneten Standort gehen.

Neben weiteren Bergen in der Atacama-Wüste zog die ESO auch hochgelegene Orte auf Mallorca, in Marokko, im Himalaya und sogar auf Grönland oder in der Antarktis in Betracht. Doch schließlich gab die in Chile bereits vorhandene Infrastruktur den Ausschlag. Im April 2010 gab das Konzil der ESO bekannt, dass das neue Großteleskop auf dem 3060 Meter hohen Cerro Amazones errichtet wird, der gerade einmal 20 Kilometer vom Paranal entfernt liegt. Dadurch lässt sich ein großer Teil der für die Paranal-Sternwarte gebauten Einrichtungen und Straßen auch für das neue Observatorium nutzen.

Der Bau eines Fernrohrs auf einem hohen Berg mit idealen Wetterverhältnissen reduziert zwar die Luftunruhe, schaltet sie aber nicht völlig aus. Doch moderne Technik macht es möglich, die Störungen fast vollständig auszugleichen und so nahe an das theoretische Auflösungsvermögen heranzukommen. Im Strahlengang des E-ELT liegt ein weiterer dünner Spiegel, den 6000 kleine Motoren verformen – tausend Mal pro Sekunde und zwar gerade so, dass dadurch der Einfluss der Luftunruhe auf die einfallende Strahlung fast völlig ausgeglichen wird. Zur Kalibrierung dient dabei ein künstlicher Stern, der mithilfe eines Laserstrahls in der Atmosphäre erzeugt wird. Die Bilder des E-ELT werden so etwa 15-mal schärfer sein als die des Hubble-Teleskops.

Voraussichtlich 2014 beginnt die ESO mit dem Bau des Fernrohrgiganten, derzeit laufen erste Versuche mit optischen Prototypen. Am 13. Oktober 2011 übertrug die Republik Chile der Europäischen Südsternwarte 189 Quadratkilometer Land um den Cerro Amazones für den Bau des neuen Observatoriums. Weitere 362 Quadratkilometer um den Standort wurden für 50 Jahre zum Schutzgebiet erklärt, um Beeinträchtigungen der astronomischen Forschungen durch Lichtverschmutzung und Bergbauarbeiten zu verhindern. Die ESO sicherte den chilenischen Astronomen im Gegenzug – wie schon bei den beiden anderen Observatorien – zehn Prozent der Beobachtungzeit am E-ELT zu.

Damit haben die chilenischen Forscher die Möglichkeit, etwa ab 2022 gemeinsam mit ihren Kollegen erneut das astronomische Weltbild zu revolutionieren. Neben der Untersuchung erdähnlicher Planeten und der beschleunigten Expansion wollen die Astronomen mit dem E-ELT erstmals einen Blick in das dunkle Zeitalter des Kosmos werfen. 380 000 Jahre nach dem Urknall war das Universum so weit abgekühlt, dass sich aus Elektronen und Protonen elektrisch neutrale Wasserstoffatome bilden konnten. Aber erst 400 Millionen Jahre nach dem Urknall sind die ersten Sterne und Galaxien entstanden – was ist in der Zeit dazwischen passiert? Und welche Rolle spielen die gewaltigen Schwarzen Löcher, millionen- oder gar milliardenfach schwerer als unsere Sonne, in der kosmischen Entwicklung? Wie sind sie entstanden und gewachsen?

Und noch eine weitere, ganz fundamentale Frage soll das E-ELT beantworten: Sind die Naturgesetze, so wie wir sie kennen, räumlich und zeitlich konstant? Veränderungen von Naturkonstanten zeigen sich als winzige Verschiebungen der Wellenlängen des Lichts, das ferne Objekte aussenden. Mit seiner gewaltigen lichtsammelnden Kraft könnte das neue europäische Himmelsauge erstmals solche Variationen nachweisen – und damit die Tür aufstoßen zu einer neuen Physik jenseits von Relativitätstheorie und Quantenmechanik.

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