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Wissen: Aus Haiti hinaus in die Welt

Wie alles begann: Amerikanische Forscher rekonstruieren die Geschichte der Aids-Epidemie

Als zu Beginn der 1980er Jahre in den USA Aids als eigenständige Krankheit erkannt wurde, gelang es den Infektionsmedizinern verhältnismäßig schnell, herauszufinden, dass es sich bei dem Erreger um ein unbekanntes Virus handelte. Der Übertragungsweg des Immunschwächevirus HIV wurde ebenfalls rasch erkannt.

Viel schwieriger war dagegen die Frage zu beantworten, wo das Virus herkam. Einer neuen Studie amerikanischer Forscher zufolge nahm der aus Afrika stammende Erreger seinen Weg über Haiti in die USA und von dort in die westliche Welt. Damit ist die Theorie, nach der sich US-amerikanische Sextouristen in der Karibik angesteckt und den Erreger unerkannt mit nach Hause gebracht haben, vermutlich überholt.

Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten, um die Ausbreitungswege eines neuen Krankheitserregers nachzuvollziehen. Typischerweise trägt man während einer Epidemie die Krankheitsfälle in eine Karte ein und verbindet diese mit Besuchen, Reisen und anderen gesellschaftlichen Aktivitäten der Erkrankten. So konnte der Weg der Pest im Mittelalter von Italien bis nach Norwegen nachgezeichnet werden.

Seit einigen Jahren lassen sich Infektionsketten wesentlich eleganter mit molekularbiologischen Verfahren rekonstruieren. Dabei werden winzige Unterschiede in der Erbsubstanz eines Erregers mit statistischen Verfahren analysiert. Hat man Proben von Patienten, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten an verschiedenen Orten untersucht wurden, so kann an Hand genetischer Muster der Verwandtschaftsgrad bestimmt und ein Altersstammbaum der Mikrobe erstellt werden.

Diese Methode eignet sich besonders gut für Erreger wie HIV, die sich rasch verändern (mutieren), und bei denen sich der mutierte Bereich auf einen kleinen DNS-Abschnitt beschränkt. Das Verfahren zum Erstellen eines Virusstammbaumes ist als Markovketten-MonteCarlo-Algorithmus bekannt. Die Methode ist mittlerweile so ausgereift, dass nicht nur die Äste des Erregerstammbaums zuverlässig nachgezeichnet, sondern auch die Zeiträume zwischen definierten Virusgenerationen relativ genau bestimmt werden können.

Eine Gruppe von Evolutionsbiologen unter der Leitung von Thomas Gilbert von der Universität von Arizona hat die Methode auf fünf Blutproben angewandt, die zwischen 1982 bis 1983 von haitianischen Aids-Patienten gewonnen wurden. Über ihre Arbeit berichteten sie online im Fachblatt „PNAS“ (Ausgabe vom 24. Oktober). Diese Patienten waren kurz zuvor in die USA eingewandert und gehörten zu den ersten Todesfällen, die einer Infektion mit dem HIV zugeschrieben wurden.

Die Forscher hatten bewusst Patienten aus Haiti für die Stammbaumanalyse ausgesucht, da bereits in der Frühphase der Aids-Epidemie in den USA das Phänomen beobachtet worden war, dass Einwanderer von der Karibikinsel extrem häufig unter dem Immunschwächesyndrom litten. Quasi um entfernte Verwandte der isolierten Virustypen mit dem Stammbaum in Bezug setzen zu können, untersuchten die Wissenschaftler weitere 117 Blutproben von Aids-Patienten aus 19 verschiedenen Ländern.

Die Markovketten-Monte-Carlo-Analyse zeigte, dass HIV mit großer Wahrscheinlichkeit um 1966 von Zentralafrika nach Haiti gelangte. Dort verbreitete sich das Virus in der einheimischen Bevölkerung zuerst über heterosexuellen Geschlechtsverkehr und später auch von Müttern auf ihre Kinder. Etwa 15 Jahre zirkulierte der Erreger unerkannt in dem Karibikstaat, „reiste“ aber Anfang der 1970er Jahre mit haitianischen Auswanderern in die USA. Dort entwickelte sich der Erreger zu einem neuen Virusstamm, der sich zuerst in Nordamerika und dann über die gesamte Welt ausbreitete.

Die Evolutionsbiologen überprüften die nach dem Monte-Carlo-Algorithmus errechneten Ergebnisse mit einem zweiten Verfahren und kamen damit auf eine noch höhere Wahrscheinlichkeit für den vermuteten Ausbreitungsweg. Sie folgern deshalb, dass der „Muttererreger“ des weltweiten Pandemiestamms mit einer Sicherheit von mehr als 99 Prozent von der Karibik-Insel stammt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Erreger zuerst in den USA aufgetreten ist und sich von dort aus in die Karibik und dann in die restliche Welt ausgebreitet hat, lag dagegen nur bei 0,003 Prozent.

Dass Haiti zum ersten Stützpunkt des Aids-Erregers in der Neuen Welt wurde, ist auch aus anderen Gründen plausibel. Kurz nachdem der Belgische Kongo 1960 seine Unabhängigkeit erlangte, waren männliche Haitianer nach Zaire gereist, um dort zu arbeiten. Wie viele der vorübergehenden Emigranten in Zentralafrika blieben, ist unklar. Einige kehrten jedenfalls nach einigen Jahren in ihre Heimat zurück, und mindestens einer der Rückkehrer muss das Virus mit nach Haiti gebracht haben.

Warum gerade Haiti zum Sprungbrett für HIV in der neuen Welt wurde, hat vermutlich nichts mit evolutionsbiologischen Merkmalen des Erregers zu tun, sondern hat handfeste soziale Gründe. Offensichtlich ließen gesellschaftliche Faktoren Aids in Haiti zu einer Massenseuche werden. Als das Virus auf der Karibikinsel eintraf, gehörte das Land – wie noch heute – zu den ärmsten der Welt. Der Bildungsstand war extrem gering, die Bevölkerungsdichte relativ hoch und Promiskuität verbreitet.

Eine Gesundheitsversorgung, die diesen Namen verdient, existierte nicht, und Infektionsepidemiologen waren auf der Insel unbekannt. So konnte sich die neue Krankheit über Jahre ausbreiten, ohne dass öffentliche Gesundheitssystem und die medizinische Wissenschaft davon Kenntnis hatten. Wäre die Epidemie in dem Inselstaat frühzeitig erkannt worden, wäre der weltweite Eroberungszug von HIV vermutlich anders verlaufen.

Trotz der überzeugenden Statistiken, mit denen die Forscher ihre molekularbiologischen Analysen untermauern, ist die Studie vermutlich noch kein Schlussstein in einer ein für alle Mal zementierten Beweisführung. Wie die Wissenschaftler selbst zugeben, basieren ihre Schlussfolgerungen auf der Analyse von gerade einmal fünf haitianischen Patienten. Außerdem beschränkten sie ihre Untersuchungen auf den B-Subtyp der M-Variante des Immunschwächevirus. Umfassendere molekularbiologische Analysen könnten in der Zukunft möglicherweise ein Bild zeichnen, das weniger eindeutig ist.

Hermann Feldmeier

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