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Ein junger Mann steht in der Tür einer selbstgezimmerten Hütte.

© Boris Roessler/dpa

Ausgrenzung und Verfolgung der Roma in Europa: Geschichten vom „Randvolk“

Von jeher ausgegrenzt: Warum die Roma nicht als Teil der vielgestaltigen europäischen Kultur akzeptiert werden. Ein Gastbeitrag.

Die Großen der europäischen Geistesgeschichte von Max Weber bis Norbert Elias haben Europa als Geburtsstätte der Moderne beschrieben, als energetisches Zentrum zivilisatorischen Fortschritts. Ihr Blick war auf die „großen“ Erscheinungen gerichtet: Industrialisierung und wirtschaftliche Produktivität, Staaten- und Nationenbildung, Religion, Wissenschaft und Kunst. Und diese Erscheinungen bildeten die Richtmarken für die Verortung der Zentren und der Peripherien.

Es gibt aber dennoch das „andere Europa“, das hinter dem Horizont verschwindet: das Europa der weißen Flecke, des Marginalen und Peripheren, der zentrifugalen Bewegungen und des Ausschlusses. Die Beschäftigung mit diesem Europa orientiert sich an der Hoffnung, dass sich wesentliche Einsichten in Entwicklungen langer Dauer in Europa auch von dieser Seite her – durch den Blick auf Unterdrückung, Ungleichheit, Konkurrenz, Ignoranz, Lüge, Verstellung und Hass – gewinnen lassen. Für diese Leerstellen der europäischen Geschichte stehen in exzeptioneller Weise die Schicksale der Roma vom Mittelalter bis heute.

Sie kommen in kleinen friedlichen Gruppen - und gelten als Bedrohung

Die unterschiedlichen Romvölker, die um 1400 nach Europa einwanderten und sich überall niederließen, stellten niemals nationale oder territoriale Ansprüche. Dennoch werden die kleinen friedlichen Gruppen, von deren Auftauchen die Stadtchroniken des 15. Jahrhunderts berichten, von Anfang an und ausnahmslos als Bedrohung wahrgenommen. Ihre Nähe wird meist nicht geduldet, ein Zusammenleben mit ihnen erscheint undenkbar. Abwehr, Ausgrenzung und Verfolgung herrschen vor. Es hilft ihnen wenig, dass sie sich als Verfolgte und bußfertige Pilger ausgeben, um ein Gastrecht zu erlangen.

Dass sich das frühneuzeitliche Europa fremden Einwanderern gegenüber stets abweisend verhält, trifft nicht zu, wie man am Umgang mit den im gleichen Zeitraum von Frankreich aus nach Osten strömenden hugenottischen Religionsflüchtlingen beobachten kann. Diese sehr unterschiedliche Umgangsweise hat nicht nur mit dem sozialen Stand und dem wirtschaftlichen Vermögen der Migranten zu tun, denn die ersten Romagruppen treten in „Adelsformation“ auf, angeführt von einem berittenen Herzog oder Grafen, und beherrschen vermutlich die Sprache des jeweiligen Landes.

Negative Mythen über die Herkunft der Roma

In der „Schweytzer Chronick“ Johannes Stumpfs (1500–1566) aus dem Jahr 1538 heißt es etwa: „Sie gaben für / wie sie auß Egypten verstossen weren / und müßten also im ellend 7. jar büß würcken. Sie hielten Christliche ordnung / trügen vil gold und silber / doch darneben arme kleider. Sie wurden von den ihren auß ihrem vatterland herüber mit Gelt verlegt und besoldet / hatten keinen mangel an zeerung / bezalten ihr essen un trincken .“

Wer in Europa an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit als Volk Anerkennung finden will, muss in der Lage sein, über seine Abstammung Auskunft geben zu können. Die Roma haben, als sie vermutlich fünfhundert Jahre nach ihrem im Dunkel der Geschichte liegenden Aufbruch aus dem heutigen Nordindien nach Europa gelangen, keine Erinnerungen mehr an ihre Herkunft. Wo es keine Spuren gibt, müssen die biblischen, auf die Söhne und Enkel Noahs zurückführenden Genealogien ihr Geheimnis lüften helfen. Hält man ihre in den (unsicheren) Quellen auftauchende Behauptung, aus Ägypten zu stammen, für zutreffend, dann hat man einen Faden in der Hand, der zu Noahs Sohn Cham führt, den Stammvater der schwarzen Völker.

Dass sie die christliche Religion annehmen, genügt nicht

Zu den Nachfahren Chams zählen nicht nur die Afrikaner, sondern ebenso die sogenannten Erdrandsiedler, von denen Reisende wie Marco Polo und Mandeville berichtet hatten, monströse Gestalten wie Hundsköpfler, Kopflose, Riesenfüßler und Sechsarmige, denen sich die Teratologie wissenschaftlich widmete.

Für „Schwarze“ werden sie noch bis zur Aufklärung gehalten, bis die vergleichende Sprachgeschichte durch die Untersuchung der ihnen eigenen Sprache, des Romanes, ihre indische Herkunft nachzuweisen vermag. Als „schwarzes“ Volk aber sind sie nicht willkommen. Stattdessen geht man davon aus, dass sie auf ihr Ursprungsterritorium, das man sich als solches ausgedacht hat, zurückkehren werden und müssen.

Die „Schwärze“ ist in dieser Übergangsepoche auch in Religionsdingen kein günstiges Zeichen. Es ist die Farbe des Teufels, als dessen Anbeter sie verdächtigt werden. Dass die Roma die christliche Religion annehmen, genügt nicht. Im Gegenteil wird behauptet, dass sie innerhalb ihres Volkes kein institutionalisiertes Christentum praktizieren würden.

Ent-Europäisierung: Kein Platz für die Roma im Europa der Nationalstaaten

Die allmähliche Herausbildung europäischer Nationalstaaten nach der Einwanderung der Romvölker führt zu einer Verschärfung ihrer Lebenssituation. In die rechtliche, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Neuordnung werden sie nicht einbezogen. Dies führt vor allem im 17. und 18. Jahrhundert zu Verfolgungen und gewaltsamen Vertreibungen von Territorium zu Territorium oder in Ausnahmefällen (Spanien und Österreich) zu Zwangsansiedlungen unter Aufgabe der nomadischen Lebensweise und der eigenen Sprache und Kultur. Mit den Vertreibungen geht ein Verlust inzwischen erworbener lokaler Rechte Hand in Hand. Obdachlosigkeit und Umherwandern stellen eine erzwungene Lebensweise dar. In der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft werden sie zum angeborenen Wandertrieb und zum Fluchtreflex eines von Diebstahl, Raub und Betrug lebenden Volkes, das seine eigentlichen Wohnstätten in den Tiefen der Wälder, den Weiten der Steppen oder den Höhlen der Gebirge hat.

Ethnologen stufen die Roma vom Volk zum Stamm herab

Die „Zigeuner“ werden nicht als ein Teil der vielgestaltigen europäischen Kultur akzeptiert. Ihre „Ent-Europäisierung“ unter den Bedingungen moderner Nationalstaaten führt dazu, dass, im Unterschied zu den Juden, die soziale Desintegration anhält. Die Ethnologie des 19. Jahrhunderts verstärkt diese Tendenz noch. Sie stuft den „Wert“ der unterschiedlichen Ethnien nach dem Grad ihrer sozialen Organisation in der aufsteigenden Linie von der Familie über Stamm und Volk bis zum Staat ein. Im Übergang von der anthropologischen zur ethnologischen Betrachtung fallen die Zigeuner von der Stufe „Volk“ auf die niedrigere Stufe eines „Stamms“ herab und werden schließlich, verstärkt durch die sprachliche Herabsetzung, zur „Zigeunerhorde“. So erscheinen sie als tribalistische Gesellschaft, als vorzivilisatorisches Naturvolk, das mit amerikanischen Indianern und Afrikanern verglichen wird.

Vermischungsängste aus dem Dunkel von Ekel und Abscheu

Mit den Zigeunern schafft die Ethnografie an der Peripherie der europäischen Hochkultur neue „Randvölker“, die sich mit dem zufriedengeben müssen, was die „Kulturvölker“ ihnen überlassen. Noch sind dies nicht die Müllhalden, verseuchten Industriebrachen oder die nutzlosen Flächen unter Autobahnbrücken wie heute in Europa, sondern die unerschlossenen oder wenig ergiebigen ländlichen Randgebiete, in die sie verdrängt werden sollen. Es wird unterstellt, dass die Zigeuner genau dort ihre Heimat sehen, sofern sie nicht ohnehin wurzellos umherziehen. In einem Aufsatz von 1884 heißt es: „Wie der Brombeere und den Disteln ist es ihm am wohlsten in culturlosem, mit Trümmern bedecktem Boden.“

Analysiert man den Hintergrund dieser „Ent-Europäisierung“, kommen aus dem Dunkel von Ekel und Abscheu diffuse Vermischungsängste ans Licht. Sie werden nur kurze Zeit später von den Rassentheorien, die in die Ethnologie eindringen, offensiv in den Vordergrund gerückt. Vermischung ist deren obsessives Thema, wie man an den Zigeunerforschungen des Volkskundlers Friedrich Wilhelm Brepohl, einem Mitglied der Gypsy Lore Society, nachverfolgen kann.

Ein Konzept, das in die Vernichtungslager des NS führt

Im Zentrum seines Interesses steht die Frage, „wo der Bakterienherd war, der das Wandervolk der Zigeuner verseuchte“. Seine heute weder historisch noch systematisch nachzuvollziehende Argumentation mündet in eine „byzantinische These“ ein, wonach die Völkervielfalt und -vermischung sowie die „fürchterliche sittliche Verkommenheit im byzantinischen Reiche“ die Zigeuner, die vermutlich „bis Egypten ein harmloses Volk“ gewesen seien, verdorben hätten. Ein solches Konzept führt nicht in zivilisationsferne „Lebensräume“ an den Rändern, sondern in die Vernichtungslager des NS.

Die Mehrzahl der literarischen Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt diesem Weg. Sie streichen die Bilder der Faszination durch, die ein Leben an den Rändern bieten kann, und überschreiben sie mit Geschichten von Verachtung, Hass und Ekel, die sich wie eine Schmutzschicht auf dem Grund des kollektiven Gedächtnisses der europäischen Gesellschaften abgelagert haben. Diese Narrative sind heute weiterhin überall in Europa zu hören. Aus ihnen erwachsen die drei zähesten Vorstellungen über Roma, die immer noch unser Alltagsverhalten bestimmen: Schon ihre bloße Existenz bedeutet eine Bedrohung. Ein Zusammenleben mit ihnen ist auf Dauer nicht möglich. Ihr parasitäres Verhalten zerstört jede nach Gemeinwohl strebende Gesellschaft.

Das Berliner Mahnmal für die während der NS-Zeit in ganz Europa ermordeten Sinti und Roma und die Ausstellungen über die Lebensweise und Kultur der Romvölker, die in einigen europäischen Ländern entstanden sind, erinnern an die Konsequenzen eines derartigen Verhaltens. Die lange Geschichte der Ausgrenzung beenden sie nicht.

Klaus-Michael Bogdal ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. 2011 erschien sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner“. Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den er kürzlich am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz im Rahmen der Schwerpunktreihe „Europa und seine Ränder“ gehalten hat.

Klaus-Michael Bogdal

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