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Ausgeliefert. Frauen 1924 vor einer staatlichen Untersuchungsstelle für Prostituierte in Montevideo.

© UNOG Library, League of Nations Archive

Ausstellung im Centrum Judaicum: Emigration ins Bordell

Sie hofften auf ein besseres Leben jenseits des Schtetl und folgten falschen Versprechungen: Eine Berliner Ausstellung erforscht den Handel mit jüdischen Mädchen um 1900.

„Wir mussten gehorchen, wurden gequält und geschlagen. (...) Nun sind wir frei, haben aber nicht genug Geld, um nach Hause zu fahren“, schreiben Fani Wajner und Liza Kowal in einem Brief, der 1906 in der Polizeidirektion Lemberg eingeht. Er stammt aus Bombay. Die Mädchen sind via Hamburg per Dampfschiff zunächst nach Rio de Janeiro, dann nach Bombay verschleppt worden, um dort in einem Bordell zu arbeiten. Sieben Monate später wird ihre Akte geschlossen, da Recherchen „aufgrund der großen Zahl von Prostituierten vaterländischer Provenienz sowie in Folge Fehlens jedwelcher Anmeldepflicht und Kontrolle“ erfolglos geblieben seien, wie der Konsul aus Rio de Janeiro mitteilt. Hier verliert sich die Spur von Fani und Liza.

Zwischen 1800 und 1930 wanderten über 63 Millionen Europäer nach Amerika aus. Sie erhofften sich dort ein besseres Leben und eine gesicherte ökonomische Existenz. Für zehntausende Frauen führte der Weg jedoch in die Prostitution. Unter ihnen befanden sich auch viele Jüdinnen. Diesem in der Forschung bisher noch wenig beachteten Aspekt widmet sich die neue Ausstellung „Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930“ der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven.

Anhand von Fotos, Privatbriefen, Akten des Auswärtigen Amtes, Konsulatsschreiben, Zeitungsnotizen sowie Polizei- und Gerichtsprotokollen werden die Schicksale dieser Mädchen nachgezeichnet. Kuratorin Irene Stratenwerth hat in mühevoller Arbeit das oft fragmentarische Quellenmaterial aus Archiven in Berlin, Bremen, Hamburg, Genf, Wien, Czernowitz, Odessa, St. Petersburg oder Buenos Aires zusammengetragen.

Die Auswanderung jüdischer Mädchen war vorrangig ein osteuropäisches Phänomen. Hier hatte sich bis 1880 die bedeutendste jüdische Gemeinde der Welt herausgebildet, allein im russischen Zarenreich lebten um 1900 etwa sieben Millionen Juden. Doch ihre Lebensbedingungen waren äußerst prekär. „Luftmenschen“ wurden sie von den Zeitgenossen auch genannt. Sie blieben Sondergesetzen unterworfen, die ihre Berufsausübung und Niederlassung stark einschränkten. Nicht nur die Enge und Existenznot des Schtetl prägte ihr Leben, sondern auch die Angst um das eigene Leben: So fanden im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in über 1200 russischen Städten Pogrome statt mit geschätzten 30 000 bis 100 000 jüdischen Opfern. Als die berüchtigtsten gelten die von Odessa 1821, 1859 und 1871.

Auch in Polen kam es nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität 1918 zu Pogromen, ebenso in Ungarn und Rumänien in den 1920er Jahren. Die Verfolgungen lösten eine Auswanderungswelle aus, bis 1930 verließen über drei Millionen Juden Europa mit dem Ziel Amerika, wo sie seit 1776 rechtlich gleichgestellt waren. Doch manche Hoffnung auf ein besseres Leben in der Neuen Welt wurde zerstört. Gerade junge, sehr arme und ungebildete Frauen wurden leicht Opfer falscher Versprechungen oder skrupelloser Zuhälter und endeten in Bordellen und Tanzlokalen.

Seite 2: Der "Gelbe Schein" war vor 1917 für jüdischen Mädchen der einzige Weg nach Moskau oder Sankt Petersburg.

Die Ausstellung zeigt auch das Schicksal armer jüdischer Mädchen aus Hessen, die als „Hurdy-Gurdy-Girls“ (Drehleier-Mädchen) nach Kalifornien auswanderten. Auch der bisher wenig bekannte Transfer jüdischer Mädchen aus Deutschland und Österreich-Ungarn nach Russland wird nachverfolgt. So schrieb der preußische Gesandte in St. Petersburg und spätere deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck 1862 an das „Hohe Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten“ in Berlin. Die 22-jährige Marie Haase war von einem Hamburger Bordell mit falschen Versprechungen nach St. Petersburg gelockt worden. Bismarck machte auch den Leiter des russischen Innenministeriums Graf Pjotr Andrejewitsch Schuwalow darauf aufmerksam, dass „ein Bordell kein Schuldgefängnis sei“.

Sein Einschreiten zeigte Erfolg und Marie Haase erhielt ihre Personalpapiere zurück, die sie gegen ein „Medizinisches Billet“ hatte tauschen müssen. Umgangssprachlich wurde es „Gelber Schein“ genannt und hat der Ausstellung den Titel gegeben. Denn für viele jüdische Mädchen war er vor 1917 in Russland der einzige legale Weg aus den „Ansiedlungsrayons“.

Kuratorin Irene Stratenwerth hat einen Weißen Fleck in der Geschichte der europäischen Juden bearbeitet. Gleichzeitig möchte sie auf die Aktualität des Themas und den Zusammenhang von Armut, Chancenlosigkeit und Mädchenhandel aufmerksam machen. Centrum Judaicum, bis 30. Dezember, So–Mo 10 bis 20 Uhr, Di–Do 10 bis 18 Uhr, Fr 10 bis 14 Uhr. Vom 27. August bis 28. Februar 2013 ist eine parallele Ausstellung im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven zu sehen.

Anna Bernhardt

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