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Ohne Hoffnung. Wenn junge Krebspatienten weitere Therapien ablehnen – sollen Ärzte das akzeptieren? Auch wenn es noch eine Heilungschance gibt?

© Caro / Trappe

Behandlung von Minderjährigen: Kindeswohl und Kindes Wille

Chemotherapie, Impfung wider Willen oder eine geheime Abtreibung: Auch Minderjährige werden mit medizinischen Entscheidungen konfrontiert. Experten diskutieren, wie - und wann - die junge Patienten über ihre Behandlung mitbestimmen sollen.

Der Zehnjährige will nicht mehr. Wegen seiner Leukämie hat er schon viele Monate im Krankenhaus verbracht; nun ist der Krebs, ein Jahr nach der letzten Behandlung, wiedergekommen. Der Junge kennt Klinikaufenthalte und Chemotherapien. Seine Ärzte halten ihm aber vor Augen, dass er nur damit eine Heilungschance hätte. Sie liegt bei 20 Prozent. Er bleibt bei seiner ablehnenden Haltung.

Aber kann diese Meinung den Ausschlag geben? Darf sie es, muss sie es vielleicht sogar? Zwar sind Kinder und Jugendliche nicht voll geschäftsfähig, doch gemeinhin gelten sie, wenn es um eine medizinische Behandlung geht, ab 14 Jahren, spätestens jedoch mit 16 als „einwilligungsfähig“. Und, wichtig für den vorliegenden Fall: Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, dass auch jüngere Minderjährige ein Recht darauf haben, dass ihre Meinung berücksichtigt wird. Das gilt nicht nur in Therapiefragen.

Ärzte und Eltern wollen das Beste für das Kind

Der Begriff „Kindeswohl“ fällt oft im Zusammenhang mit Fällen von Vernachlässigung oder Missbrauch. Das Beispiel des krebskranken Jungen ist anders: Ärzte und Eltern haben das Wohl des Kindes im Auge, sie wollen sein Bestes. Wie steht es unter diesen Umständen mit dem Willen des Kindes selbst, steht der nicht seinem Wohl entgegen? Schließlich muss es sterben, wenn es keine Behandlung bekommt. Andererseits geht es um sein Leben, seine Behandlung, seine unsicheren Chancen.

„Der Begriff des Kindeswillens hat eine Ambivalenz, die in den bisherigen Debatten nicht zur Sprache gekommen ist“, sagt Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Der widmete sich dem Thema unlängst bei seinem zweiten Treffen mit den Bioethikkommissionen der Nachbarländer Österreich und Schweiz.

Lange Zeit, sagt die Medizinethikerin Wiesemann, habe man den vermuteten zukünftigen Interessen des Kindes, seinem Recht auf eine offene Zukunft, den Vorrang gegeben und das Kind mitunter zu seinem Glück gezwungen. Heute sei es aber nicht mehr möglich, in Konfliktsituationen automatisch den zukünftigen Erwachsenen in den Mittelpunkt zu stellen. „Auch Kinder können entscheiden, was für sie ein ,gutes Leben’ ist.“

Ein Arzt klagt gegen den Entschluss der Eltern

Doch wann ist ihr Wille ernst zu nehmen? Das Alter allein sei kein Kriterium, gab Ruth Baumann-Hölzle von der schweizerischen Nationalen Ethikkommission zu bedenken. Gerade in der Pubertät seien Willensäußerungen oft stärker von Abgrenzungsgedanken als von Einsicht geprägt. In seiner Schrift „Kindeswohl und Kindeswille“ fordert der Berliner Psychologe Harry Dettenborn denn auch inhaltliche Kriterien ein: Der betreffende Wunsch muss von dem Heranwachsenden „zielorientiert“ vorgebracht werden und er muss „stabil“ sein, also unabhängig von Stimmungen bestehen bleiben. Als Kindeswillen in diesem Sinn bezeichnet Wiesemann eine „nachdrückliche Meinungsäußerung, die emotionale Bedeutung hat, wiederholt vorgetragen wird und deren Nichtbeachtung die Selbstachtung des Kindes untergraben würde“.

Der 13-jährigen Hannah Jones kann man all dies sicher zubilligen. Ihr Fall ging 2008 durch die Medien, damals hatte ein britisches Gericht entschieden, dass ihr Wille für die Ärzte Befehl sein sollte. Das Mädchen war mit fünf Jahren an Leukämie erkrankt, hatte mehrere Chemotherapien gebraucht, die ihr Herz angegriffen hatten. Nur eine Transplantation hätte sie nun retten können. Doch die wollte sie nicht mehr – und konnte auch ihre Eltern von ihrem Standpunkt überzeugen. Trotzdem klagte ein Arzt wegen Gefährdung des Kindeswohles, das Gericht erklärte Hannahs Willen jedoch am Ende für maßgeblich.

Gerade schwerkranke Heranwachsende, die wie Hannah lange Erfahrungen mit verschiedenen Behandlungen haben, werden inzwischen als „Experten“ für ihre Erkrankung ernst genommen. „Es kommt zu einer anderen Kultur in den Krankenhäusern“, sagt Baumann-Hölzle. In Kanada ist sogar ein „Partizipationsrecht“ von Kindern ab fünf Jahren bei Behandlungsentscheidungen gesetzlich festgehalten.

Sechs fiktive Fälle - wie würden Sie entscheiden?

Welche Rolle junge Patienten selbst bei Therapieentscheidungen nach Ansicht von deutschen Kinderärzten spielen sollten, versuchte Sabine Peters in ihrer Doktorarbeit zu ermitteln, die 2013 unter dem Titel „Wenn Kinder anderer Meinung sind – Die ethischen Probleme von Kindeswohl und Kindeswille in der Kinder- und Jugendmedizin“ erschienen ist. Die Ärztin konfrontierte 124 niedergelassene Kinderärzte und 25 Kollegen aus der Uniklinik Göttingen mit sechs fiktiven Fällen. In allen hatten Kinder zwischen 6 und 14 Jahren eine klare Meinung zu einer medizinischen Maßnahme. Und alle Situationen kannte zumindest ein Teil der Pädiater aus der täglichen Praxis, wie sich zeigte.

So hatten über 90 Prozent von ihnen schon erlebt, dass sich ein Grundschüler mit Händen und Füßen gegen eine Impfung wehrte. Die Mehrheit von ihnen sah keine Probleme, die Immunisierung trotzdem vorzunehmen. Eine starke Minderheit sprach sich dafür aus, ein Kind notfalls dazu zu zwingen. Viele der Befragten würden allerdings lieber einen neuen Termin vereinbaren, in der Hoffnung auf einen Sinneswandel des Kindes nach einem ruhigen Gespräch mit den Eltern.

Keine Entscheidung von oben herab

Weit brisanter ist der Fall der 14-Jährigen, die gegen den Willen der Erziehungsberechtigten einen Schwangerschaftsabbruch wünscht. 78 Prozent der befragten Ärzte würden sie unterstützen. Fast ebenso viele würden einem Mädchen dieses Alters zusichern, den Eltern nichts davon zu erzählen, dass es sich „ritzt“ – in der Hoffnung, das Vertrauen der Patientin für eine Behandlung des selbstverletzenden Verhaltens nutzen zu können.

Im anfangs geschilderten Fall des zehnjährigen Jungen mit der Leukämie, der ebenfalls aus der Untersuchung von Sabine Peters stammt, sind die Kinderärzte ratlos. Jedenfalls ergab sich in der Befragung eine echte Patt-Situation. So verständlich der Unwille des therapieerfahrenen Kindes ist – die Ärzte sehen auch seine Heilungschance, sie tun sich schwer damit, die zu verspielen.

„Hier sind wir im Herzen des Konflikts“, sagte Wiesemann bei der Veranstaltung des Ethikrates. Gespräche zwischen den Kindern und ihren Eltern seien für eine Lösung entscheidend. Eines ist sicher: Von oben herab kann die Entscheidung nicht kommen.

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