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Wissen: Bewegte Geschichte

Tanzforschung gleicht einer archäologischen Spurensuche. Selten werden Choreographien aufgezeichnet

Im Jahr der Geisteswissenschaften bittet der Tagesspiegel herausragende Vertreter geisteswissenschaftlicher Fachgebiete um kurze Aufsätze zu einem Forschungsthema, das sie gerade beschäftigt. Sie geben Einblicke in die Arbeitsweise von Geisteswissenschaftlern, in ihre Methoden und aktuellen Forschungsansätze.

Der Tanz gilt in der abendländischen Kultur als die flüchtigste der Künste. Seine Vergänglichkeit verleiht ihm seinen besonderen Zauber, seine sinnliche und zugleich spirituelle Faszination. Wie aber ließe sich diese flüchtige Gestalt festhalten? Anders als für die Musik hat sich für den Tanz keine verbindliche (Noten-)Schrift entwickelt, die es ermöglicht, die Form von Choreographien und den Verlauf von Körperbewegungen aufzuzeichnen und zu überliefern.

Wie also bewahrt und tradiert sich das lückenhafte Gedächtnis des Tanzes? Die Erinnerung an einen Tanz ist nicht technisch kopierbar: Der Körper ist der Ort des Gedächtnisses, und der ganze Mensch ist an der Aneignung, Vermittlung, Übertragung von Bewegungen beteiligt. Wer je Tänzer bei der Erarbeitung einer Choreographie beobachtet hat, weiß, wie eindrucksvoll rasch und genau sie Bewegungsfolgen, Raumfiguren, Dynamiken des Ablaufs aufnehmen, erinnern und variieren. In diesem körperlichen Prozess werden Tänzer und Choreographen oft selbst zu Forschern. Dabei geht es nicht um sterile Rekonstruktion „alter Tänze“, sondern um die Verlebendigung einer vielleicht schon fremden Tradition.

Wie dies gelingen kann zeigt etwa die Performerin Lindy Annis. Sie greift die Attitüden der Lady Hamilton um 1800 auf, ein Ereignis von dem Goethe begeistert berichtete, in einer humorvoll distanzierten Performance. Der schwedische Choreograph Mats Ek deutet das romantische Ballett „Giselle“ psychoanalytisch – jedoch nicht als „Regietheater“, sondern indem er den klassischen Ballett-Stil in eine Modern-Dance-Choreographie überträgt. Und Martin Nachbar, ein zeitgenössischer Tänzer, entdeckt den Solotanz-Zyklus „Affectos humanos“ der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer für sich. Hoyer, eine faszinierend formbewusste Tänzerin, hatte 1962 eine Studie über das Potenzial von Affekten – Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst, Liebe – choreographiert; eine äußerst intensive und präzise Darstellung ohne Rücksicht auf gängige Vorstellungen von Schönheit.

Martin Nachbar erarbeitete drei dieser Soli in einer Rekonstruktion für sein Stück „Affects/Rework“. Damit stellte er sich in eine Reihe von Rekonstruktionen: Denn schon vor ihm hatten Arila Siegert und Susanne Linke Dore Hoyers „Affectos humanos“ getanzt. Beide Tänzerinnen haben durch ihre Ausbildung noch Verbindung zum expressiven Körperkonzept des Ausdruckstanzes. Anders Martin Nachbar. In einer Lecture Performance berichtet er über diesen Prozess der Re-Konstruktion. Seine Arbeit basierte zunächst auf einer Film-Aufzeichnung von Dore Hoyers Tänzen. Sodann aber auch in der Körper-Detail-Recherche mit Waltraut Luley, einer ehemaligen Assistentin Hoyers.

Nachbar berichtet, wie er in den Proben zum Affekt „Hass“ mit seiner schlaksigen Ausführung der einleitenden Handbewegungen den Ausruf Luleys provozierte: „Herr Nachbar! Das ist Hass! Der ganze Körper ist eine Spannung!“ Was Nachbar in seinem rekonstruktiven Prozess zeigte, war nicht eine identische Aneignung. In der Übertragung des Tanzes aus einer Epoche, die fremd erscheint, mit den Mitteln seines (männlichen) Körpers und seiner anderen Bewegungserfahrung machte er vielmehr die Differenz sichtbar, zwischen Auffassungen des Tanzes der Moderne und der Postmoderne.

Kann ein Tänzerkörper, der in zeitgenössischen Release-Techniken geschult ist, die Spannung und die Detailarbeit der Glieder reproduzieren, die für Dore Hoyers Tanzstil typisch sind? Unterschiedliche Epochen bilden je andere Körper- und Bewegungskonzepte aus, die wiederum eng mit den sozialen Gegebenheiten und dem kulturellen Imaginären der Zeit verbunden sind. Statt von „Zeitgeist“ könnte man von einem sich wandelnden „Zeit-Körper“ sprechen. Tanz trägt die Signatur seiner Epoche. So ist es evident, dass ein Tänzer aus der Generation, die sich durch Coolness definiert, Schwierigkeiten hat, die Ausdrucksspannung eines Solos zu (re-)produzieren, das eine Allegorie des „Hasses“ in der Nachkriegszeit, im Rückblick auf den Nationalsozialismus, verkörpert.

In solchen Momenten wird deutlich, dass Tanz politische Geschichte verkörpert und sichtbar macht, wie sie nicht in den Geschichtsbüchern steht. Tänzer wie auch Wissenschaftler sind mit einer doppelten Geschichtstradition konfrontiert: mit dem lückenhaften Archiv der Dokumente vergangener Tanzereignisse; und mit dem lebendigen Archiv zeitgenössischer Tanzformen, ihren Experimenten und Entwürfen.

In der Geschichte des Tanzes gab es zwar seit der Renaissance immer wieder unterschiedliche Notationssysteme, bis zu Rudolf von Labans „Kinetographie“ (1926), deren ausgeklügeltes System es erlaubt, Zeitverlauf, Körperbewegung und Raumwege zu transkribieren. Die so entstandenen Partituren sind jedoch zu vereinzelt, als dass sie Archive und Museen füllen könnten wie die anderen Künste. Und es ist durchaus nicht ausgemacht, sowohl bei Tänzern als auch bei Wissenschaftlern, ob und wie eine Dokumentation in Schrift, Bild und notierter Partitur uns in solcher Nachträglichkeit einen adäquaten Eindruck von einem Tanz und seiner je spezifischen Ausführung vermitteln könnte.

Notationsskeptiker führen gegen die unterschiedlichen Formen von Aufzeichnungen an, dass Tanz als Bewegungskunst von Körpern in vielfältigen dreidimensionalen Beziehungen so kompliziert sei, dass diese Prozesse nicht ausreichend in ein Zeichensystem zu übertragen seien: etwa die Blicke und Blickwechsel von Tänzern, oder ihre Atmung, die wesentlich die Dynamik einer Aufführung bestimmen kann. Solche elementaren Ausdrucksmittel des Tanzes werden durch körperliche und mündliche Überlieferung, durch Nachahmung im Erlernen von Tanztechniken weitergegeben. Sie bilden Konventionen aus, die wiederum für bestimmte Stile und Formen des Tanzes charakteristisch sind – etwa die Blickrichtungen im klassischen Ballett, aber auch, in ganz anderer Bedeutung, im indischen Tanz.

Befürworter der Aufzeichnung von Choreographien betonen demgegenüber den Partiturcharakter von Notationen. Wie auch die Notenschrift in der Musik müsse eine Tanzpartitur nur die wesentlichen Strukturen der Körperbewegung, der Raum- und Zeitordnung einer Choreographie enthalten. Da nicht alle Details einer Aufführung verzeichnet werden, enthält eine solche Notation einen beträchtlichen Spielraum von Interpretationen für eine Wiederaufführung. Die Grundidee von Tanzschriften ist die Dokumentation eines Werkes, dessen Tradition und dessen Wiederholbarkeit.

Tanz versteht sich jedoch nicht als eine Kunstform aus dem Geist der Schrift. Das Gedächtnis des Tanzes verläuft komplexer, man könnte sagen: multimedial und performativ. Im Zeitalter des Films und des Videos stehen vermehrt mediale Aufzeichnungen zur Verfügung. Videos stellen zwar eine wertvolle Dokumentationsbasis dar, doch auch sie haben Defizite: Die körperlich-sinnliche Dimension und die Räumlichkeit der Bewegung werden nur unzureichend erfasst.

Tanzforschung gleicht deshalb – trotz dieser Hilfsmittel – einer archäologischen Spurensuche. Wobei das Suchobjekt in seiner beweglichen Gestalt nicht dinglich zu fixieren ist. Eine Reihe von Choreographen arbeitet deshalb heute mit computergestützten Systemen der Bewegungsgenerierung. Der Computer wird zum Archiv, zum Spiel-Raum und Labor für die Modellierung von Tanz und die Möglichkeiten interaktiver Performance und der Schulung – wie beispielsweise Emio Grecos „Academia Mobile“. William Forsythe hat eine CD-Rom, „Improvisation Technologies“, entwickelt, die Tänzern wie Nicht-Tänzern als analytisches Instrument dienen kann und Einblicke in sein Bewegungslabor ermöglicht: in Prozesse der Verwandlung von Körperlichkeit und von Partizipation.

Solche Entwürfe weisen über den Rahmen des Theaters hinaus: Tanz kann uns lehren, alltägliche Gesten und Haltungen, Verkehrsströme und Medien-Events anders zu sehen.

Gabriele Brandstetter

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