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Bibel seelischer Leiden: Im Dickicht der Diagnosen

Psychisch krank: Das US-Handbuch DSM-5 gilt als maßgeblicher Leitfaden zur Einteilung seelischer Leiden. Doch die Kritik wächst weiter.

Was lange währt, wird nicht unbedingt gut. Vor 14 Jahren begannen die Arbeiten am umstrittenen DSM-5, der Neufassung des seit 1952 veröffentlichten US-amerikanischen Leitfadens zum Feststellen seelischer Störungen und Krankheiten. DSM steht für „Diagnostisch-statistisches Manual“. Das Handbuch definiert anhand von Krankheitszeichen psychische Leiden, macht aber keine Behandlungsvorschläge.

Trotz der Mitarbeit von mehr als 900 Experten, vieler Konferenzen, dem Auswerten der in Jahrzehnten veröffentlichten Fachliteratur und steter Überarbeitungen ist die Kritik an dem Vorhaben stetig gewachsen. Kurz vor der für Ende des Monats vorgesehenen Veröffentlichung hat sich nun auch der prominente Psychiater Thomas Insel, Direktor des Nationalen Instituts für mentale Gesundheit (NIMH) der USA in Bethesda/Maryland, von dem Leitfaden distanziert.

„Der DSM-Leitfaden ist als ,Bibel’ des Fachgebiets beschrieben worden, aber er ist bestenfalls ein Wörterbuch“, schreibt Insel in seinem Blog. „Seine Schwäche ist der Mangel an Zuverlässigkeit.“ Die vom NIMH unterstützte Forschung werde sich künftig nicht mehr am DSM als maßgeblicher Richtschnur orientieren. Der Etat von Insels Institut beträgt in diesem Jahr knapp 1,4 Milliarden Dollar, umgerechnet gut 1,1 Mrd. Euro.

Zumindest beim ersten Hinhören fällt Insel damit in den Chor der bisherigen DSM-Kritiker ein. Dessen lautester Vertreter ist der Psychiater Allen Frances. Er war am Entstehen des Vorläufers DSM-IV von 1994 maßgeblich beteiligt, gibt nun aber den vom Saulus zum Paulus Geläuterten, beklagt Überdiagnosen und das Verschwinden des Normalen.

Insels Kritik ist viel grundsätzlicher als die des Pragmatikers Frances. Während Frances möchte, dass die psychiatrischen Krankheitskategorien so eng wie möglich gefasst werden, um Überbehandlung und Stigmatisierung zu verringern, plädiert Insel dafür, die traditionelle Einteilung völlig zu überarbeiten. Der DSM-Katalog sei zwar in der Praxis nützlich und unerlässlich, aber er spiegle die Komplexität mentaler Störungen nur ungenügend wider und sei kein Maßstab der Forschung. Den „Mangel an Zuverlässigkeit“ will Insel durch naturwissenschaftliche Präzision ersetzen.

Noch immer werden in der Psychiatrie Diagnosen anhand von mehreren Symptomen (Krankheitszeichen) gestellt, nicht durch objektive Messwerte wie in der sonstigen Medizin, etwa bei Herzkrankheiten, Lymphknotenkrebs oder Aids, schreibt Insel. In den letzten 50 Jahren habe die nicht-psychiatrische Medizin jedoch aufgehört, Krankheiten nur aufgrund von Schmerzen im Brustkorb oder anhand einer Fieberkurve festzustellen und stattdessen ihre diagnostischen Instrumente verfeinert. Insel setzt analog dazu auf Genetik, Hirnscanner und das Erforschen geistiger Prozesse, um ein neues Fundament für die psychiatrische Diagnose zu legen und die tatsächliche Ursache der Leiden zu finden.

Insels Institut hat zu diesem Zweck das „Research Domain Criteria“-Vorhaben aus der Taufe gehoben, mit dem in den nächsten Jahrzehnten ein neues System psychiatrischer Krankheiten arbeitet werden soll. „RDoC“, so die Abkürzung, ist eine Art Neben-DSM, das quer zu den herkömmlichen Kategorien ansetzt. Fünf mentale Systeme oder „Domänen“ wollen die Wissenschaftler genauer untersuchen: Negative Emotionen (Furcht, Stress, Aggression), positive Emotionen, geistige (kognitive) Prozesse, soziale Prozesse sowie steuernde Hirnfunktionen.

Jeder hat diese „Domänen“ in seinem Gehirn. Es gibt eine große Bandbreite des gesunden Funktionierens, schädlich oder krank machend sind die Extreme, so die Annahme. Die kategorische Trennung von gesund und krank weicht zugunsten gradueller Veränderung.

Damit hätte man auch erklärt, warum jeder fünfte Patient mit DSM-Diagnose noch die Kriterien für zwei weitere Störungen erfüllt. Die Ursache könnte ein für alle Diagnosen ursächliches entgleistes mentales System sein. Aus drei Diagnosen würde eine.

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