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Bibliothekartag in Berlin: Auf dem Weg zur Bücherei 2.0

Beim 100. Deutschen Bibliothekartag und bei der Langen Nacht der Bibliotheken umarmt die Zunft im Neuköllner Estrel Center das digitale Zeitalter – und hält doch an der eigenen Institution fest.

Die vielleicht schillerndste Persönlichkeit auf dem 100. Deutschen Bibliothekartag kommt aus Turku in Finnland. Im bürgerlichen Leben ist Mace Ojala Bibliothekar, und eigentlich liebe er die ganz einfachen Tätigkeiten, sagt Ojala. Die Arbeit an der Ausleihtheke, den Kontakt mit den Menschen. Uneigentlich hat Ojala Philosophie und Ästhetik studiert, interessiert sich für Systeme, wie er sagt, und dafür, wie die Bibliothek zunehmend ihren alten Phantasmen enthoben werde – dem Status als staatliche Wohlfahrtsinstitution und als primärer Quell von Wissen.

Die Bibliothek verliere auch ihren Charakter als heiliger Ort, den es aufzusuchen gelte. Wissen müsse „deprofessionalisiert und deterritorialisiert“ werden, sagt Ojala. Dabei hülfen neue Archivierungsmechanismen im Netz und in der Welt.

Ojala scheint auf den ersten Blick ein Exot auf dem Bibliothekartag zu sein, und das nicht nur wegen seines Outfits. Neben Pumphose, gelbem Kapuzenpullover und einer verspiegelten Fliegerbrille trägt der kleine Finne auch diese Ideen von Entstaatlichung und Vernetzung mit sich herum, „für die mich die meisten Leute hier wahrscheinlich strangulieren würden“.

Doch ein paar Gespräche unter den rund 5000 Fachbesuchern im Neuköllner „Estrel Convention Center“ zeigen, dass die von Ojala beschworene „Offenheit für neue Systeme“ längst auch beim weniger bunten Personal deutscher Bibliotheken angekommen ist: „Es ändert sich jedes Jahr so viel in unserem Beruf, das finde ich toll“ – „Wir sind ganz dicht dran am digitalen Zeitalter“ – „Wir werden zunehmend zu Organisationsspezialisten von Wissen“ – „Die Zeit der klassischen Buchbibliothek ist vorbei“ – das ist zwischen Messeständen zu hören, wird auf Podien diskutiert. „Bibliotheken für die Zukunft, Zukunft für die Bibliotheken“, der 100. Deutsche Bibliothekartag nimmt sein zukunftsbegeistertes Motto sichtbar ernst.

Was dabei ein wenig in den Hintergrund tritt, ist die eigentliche Funktion von Bibliotheken: Büchereien sammeln Bücher. Bücher dienen der Bildung, bieten sinnvolle Freizeitbeschäftigung, machen Spaß – und womöglich obendrein klug. Doch am Ende, zumindest an der Schwelle zur Transformation des nun rund ein halbes Jahrtausend andauernden Gutenberg-Zeitalters, ist das „Alleinstellungsmerkmal“ des Buches unwiederbringlich dahin. Das Internet läuft dem Buch in der schnellen Informationsbereitstellung längst den Rang ab.

Das E-Book droht das gedruckte Medium ins Abseits zu stellen: Ein Buch kann man in jede Tasche stecken – doch viele Bücher, alle Bücher? Neueste Entwicklungen wie das Cloud Computing versprechen bereits für die allernächste Zukunft, dass alles in der großen „Wolke“ verfügbar ist, von jedem Nutzer speicherbar und abfragbar. Und längst im Gange sind die gigantisch anmutenden Vorhaben der Digitalisierung aller Bücher, alles Gedruckten – auch in Berlin.

Behutsam legt Thomas Graaf in der Staatsbibliothek Unter den Linden ein jahrhundertealtes Buch auf die schwarze Oberfläche des Hightech-Scanners. Mit zwei Gurten schnallt er die christliche Schrift aus dem 18. Jahrhundert fest, um die Technik bei der Langen Nacht der Bibliotheken den Besuchern vorzuführen. Eine Glasplatte deckt die Buchseiten ab. Dann werden die Seiten in Sekundenschnelle gescannt.

Als „Scan Operators“ digitalisieren Graaf und seine 19 Kollegen Bücher vom 17. bis 19. Jahrhundert. Sie arbeiten im Zwei-Schicht-Betrieb. Die religiöse Abhandlung, die Graaf eingescannt hat, gehört zu deutschen Drucken aus dem 18. Jahrhundert, auch eine ostasiatische Sammlung digitalisieren die Mitarbeiter der Staatsbibliothek und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zwei Millionen Scans haben die Berliner bereits geschafft. „Falls wir aber in diesem Tempo alle elf Millionen Bücher einscannen würden, bräuchten wir dafür 300 Jahre“, sagt Graaf. Auf die Qualität der Scans und einen schonenden Umgang legen die Spezialisten großen Wert. „Manchmal geht beim Scannen die Buchbindung kaputt – trotz aller Sorgfalt“, gibt Graaf zu. In diesen Fällen sind die Restauratoren der Bibliothek gefragt.

Prunkstücke des Digitalisierungszentrums sind zwei je 100 000 Euro teure „Scan Robots SR 301“. Mitarbeiterin Regina Wilke hat ihren Roboter „Robi“ getauft. Rund 2000 Seiten kann „Robi“ in einer Stunde verarbeiten. Aber ganz ohne menschliche Hilfe geht es nicht: Bei alten Büchern mit starren Seiten muss Wilke beim Umblättern nachhelfen. Auf dem Kontrollbildschirm überprüft sie, ob Seiten fehlen und welche Seiten doppelt gescannt wurden. Insgesamt sind die beiden Scan-Roboter und dreizehn weitere verschiedene Scan-Systeme ohne Software 750 000 Euro wert.

Das Berliner Digitalisierungszentrum ist Teil des Projekts „Deutsche Digitale Bibliothek“. Diese soll 30 000 deutsche Kunst- und Wissenschaftseinrichtungen vernetzen. Millionen Bücher, Musikstücke, Filme, Fotos und 3-D-Objekte sollen im Internet genutzt werden können.

Was die wissenschaftlichen Bibliotheken längst erfasst hat, aus Gründen der Schnelligkeit wie der Kostenersparnis, nämlich die Verlagerung immer größerer Teile des Informationsflusses ins Netz, erreicht nun auch den privaten Freizeitnutzer. Was soll da noch die öffentliche Bibliothek? Sie hat sich in den vergangenen Jahren zur Mediathek gewandelt; in Frankreich hießen die zahlreichen, unter Mitterrand neu geschaffenen kommunalen Büchereien von Anfang an „Médiatheque“.

Nicht nur Lesen, auch Hören und Sehen sind im Angebot, Arbeiten, Spielen, Plaudern und einfach Nichtstun. Etwas, das mit Schlagworten wie „Wissenszentrum und Wohlfühlort“ umschrieben wird, aber noch weiter reicht, nämlich hin zum „Kommunikationszentrum der Zivilgesellschaft“. Zu etwas, das das Internet nun gerade nicht bieten kann und will: das Zusammentreffen von Menschen an einem Ort, gleich ob sie mit ihnen interagieren wollen oder einfach nur die Nähe anderer als Stimulans eigener Beschäftigung schätzen.

„Wir brauchen den Lesesaal als Treffpunkt und Kommunikationsort.“ – „Für Studierende und Wissenschaftler ist er Arbeitsraum, in dem sie zur Ruhe kommen.“ – „Im Lesesaal zu arbeiten, gibt dem Arbeitstag eine Taktung, die anderen Nutzer üben eine soziale Kontrolle aus, die diszipliniert.“ So liebevoll sprechen auch Mitarbeiter wissenschaftlicher Bibliotheken und Bibliothekswissenschaftler heute über ihre Klientel. Sie tun es am Mittwochabend im Rohbau des neuen Lesesaals der Staatsbibliothek zu Berlin. Staunend und diskutierend stehen sie in der Langen Nacht der Bibliotheken im erstmals zugänglichen Neubau des Architekten HG Merz, der Anfang 2012 eröffnet werden soll. Sind 160 Arbeitsplätze viel oder wenig für eine historische Forscherbibliothek? Die breite Treppe, die in die Lesesaalebene des Glaskubus führt, dürfte viel Unruhe hineinbringen, welcher Fußbodenbelag könnte da dämpfend wirken?

Und was sagt uns die „Kunst am Bau“, die schon unter der Decke schwebt: ein monumentales Papierknäuel, gestaltet von Olaf Metzel. Womöglich auch dies ein Abgesang auf die Gutenberg-Ära? Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf sieht darin eine Metapher auf den kreativen Prozess, in dem eben auch vieles im Papierkorb landet. Jedenfalls werde der neue Lesesaal „eine fantastische Wirkung entfalten“ – und seine Nutzer große Werke hervorbringen.

Die Bibliothek als „Lern- und Arbeitsort“ ist eine der Varianten, die auch beim Deutschen Bibliothekartag immer wieder diskutiert werden. Der Finne Mace Ojala gibt freilich auch hier den Bücherstürmer: „Bibliothekare sind keine Profis in Raumgestaltung, sie haben sich mit Innenarchitektur oder Sound Design nur am Rande beschäftigt.“ Bar- und Kaffeehausbetreiber seien „viel geeigneter“, Lese- und Arbeitsräume zur Verfügung zu stellen. Die Bibliothek als Ort werde es schwer haben in der Zukunft. Vielleicht ist das die einzige seiner Ansichten, für die die Mehrzahl seiner Bibliothekarkollegen ihn tatsächlich strangulieren wollen würde.

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