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Neue Chancen. Mit der Sekundarschule ist die Ghettoisierung der Hauptschulen aufgebrochen, sagt Bildungsforscher Tillmann. In Berlin (hier Sekundarschüler in Weißensee), Bremen und Hamburg bietet die neue Schulform eigene Wege zum Abitur.

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Bildungsforscher Tillmann: „Manche Gymnasiasten gehören womöglich auf die Sekundarschule“

Der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann über die Zweigliedrigkeit, Ängste der Eltern, Rückzugsgefechte der CDU - und Privatschulen, die für ihn "Reparaturbetriebe für Kinder der gehobenen Mittelschicht" sind.

Herr Tillmann, der Trend geht zur Zweigliedrigkeit im deutschen Schulsystem: Neben den Gymnasien soll es nur noch eine zweite Schulart geben, unter verschiedenen Bezeichnungen wie Sekundar- oder Regionalschule. Ist diese Entwicklung ein Segen oder ein fauler Kompromiss?

Verglichen mit dem vielgliedrigen und hochselektiven System ist es eine positive Entwicklung – und derzeit die einzige politisch machbare Alternative. Der bescheidene Fortschritt einer vereinfachten Schulstruktur, bei der das Gymnasium unangetastet bleibt, besteht darin, dass die Ghettoisierung der Hauptschule aufgehoben wird. Die Sekundarschule bietet für einen großen Teil der Schüler eine realistische Perspektive auf das Abitur.

Sie sind Anhänger der „gemeinsamen Schule für alle“. Können Sie sich trotzdem mit dem zweigliedrigen System nach der Grundschule anfreunden?

Die jeweilige Schulstruktur ist nun einmal der politisch gesetzte Rahmen, den Lehrer pädagogisch gestalten müssen. Das Nebeneinander von zwei Schulformen hat Grenzen, bietet aber viele Möglichkeiten, gerade für Schüler mit eher bescheidenen Lernleistungen.

Zwar will jetzt auch die Bundes-CDU die Hauptschule abschaffen und neben dem Gymnasium eine Oberschule einführen. Doch die Basis vor allem in Bayern und Baden-Württemberg stellt sich quer gegen das Bildungspapier von Ministerin Annette Schavan. Unionspolitiker sagen, die Hauptschule habe sich vielerorts bewährt – zu Recht?

Richtig ist, dass es gerade in Bayern und Baden-Württemberg nicht so einen massiven Problemdruck gibt. In wenigen ländlichen Regionen funktioniert der klassische Übergang von der Hauptschule in eine Handwerkerlehre noch. Im Süden besucht im Schnitt noch ein Viertel der Schüler die Hauptschule, in Ländern wie Nordrhein-Westfalen und in den Stadtstaaten sind es nur zehn Prozent. Doch die Entwicklung weg von der Hauptschule ist im Süden nur zeitlich verzögert. Der Wandel setzt da ein, wo Bürgermeister mitbekommen, dass sie die Hauptschulen wegen sinkender Schülerzahlen nicht mehr halten können. Schavans Position ist weitsichtig, hinter dem Widerstand gegen die Zweigliedrigkeit stehen Rückzugsgefechte. Die Hauptschule aufrechtzuerhalten, ist unverantwortlich gegenüber den Kindern.

Kritiker sagen, die neue Schulform drohe zur neuen Restschule zu werden, weil alle Kinder, die es nur halbwegs schaffen, aufs Gymnasium geschickt werden.

Das Grundproblem, dass die Kinder nach der Grundschule nach Leistungskriterien verteilt werden, ist mit der Zweigliedrigkeit nicht behoben. Die soziale Herkunft wird dabei weiterhin eine unangemessen große Rolle spielen. Aber die Sekundarschule mit einem eigenen Zugang zum Abitur, wie Berlin, Hamburg und Bremen sie eingeführt haben, entschärft die Auswahl beim Übergang. Anders sieht es mit der Zweigliedrigkeit in Ostdeutschland aus, wo die Mittelschule mit der 10. Klasse aufhört. Wer dort Abi machen will, muss unter klassischen Gymnasiasten beweisen, dass er auf Gymnasialniveau ist. Das kann eine große Hürde sein.

Es gibt Vorbehalte gegen die neue Schulform der Sekundarschule: Die Eltern der „besseren“ Schüler befürchten einen Niveauverlust, wenn ihre Kinder gemeinsam mit „Hauptschülern“ unterrichtet werden, und auch viele Realschullehrer kommen mit der neuen Klientel nicht zurecht.

Ich denke zuerst daran, dass wir mit dieser Reform etwas für die früheren Hauptschüler tun können. Konzentriert man die problematischen Fälle in einer Schulform, gibt es keine Lernerfolge. In einem neuen Klassenverband mit höher motivierten Schülern verbessert sich ihre Situation erheblich. Und wenn Lehrkräfte einen guten, differenzierten Unterricht machen, kommt das auch den besseren Schülern zugute. Nun gibt es sicher Lehrer, die sagen: Meine Arbeitsbedingungen sind günstig, wenn ich es mit motivierten und eher pflegeleichten Schülern zu tun habe. Wenn sie sich plötzlich mit Schülern beschäftigen müssen, die sie früher sitzenbleiben ließen oder abgewiesen haben, empfinden sie das als Verlust und Angriff. Aber auch Realschullehrer mussten sich in den vergangenen Jahrzehnten auf eine veränderte Klientel einstellen, es gibt ja schon lange die Bewegung der besseren Schüler auf das Gymnasium.

Wird die Lehrerausbildung der neuen integrierten Schulform gerecht?

Wer mit 27, 28 Jahren in die Schulpraxis geht, kann noch mindestens 25 Jahre dazulernen, er muss nur dazu bereit sein. Das haben auch die Lehrer geschafft, die 1980 noch nichts vom Computer gehört hatten. Auch heute sollten wir ihnen abverlangen, sich auf neue Herausforderungen einzustellen. Zumal die Lehrerfortbildung hierzu vielfältige Angebote macht. Der Umgang mit Heterogenität, individuelle Förderung und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten sind zudem seit Jahrzehnten Thema in der Lehrerausbildung. Mit der Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen müssen sich die Lehrer aber noch stärker als bisher mit diesen Konzepten vertraut machen.

Trotzdem: Viele bildungsbürgerliche Eltern schreckt die neue Schulform ab. Haben Sie Argumente, auch sie vom Segen der Sekundarschule zu überzeugen?

Zweifellos finden sich auch in den Gymnasien eine ganze Menge eher durchschnittlich begabter Schüler. Etliche von ihnen wären auf einer gut geführten Sekundarschule womöglich besser aufgehoben. Es gibt auch gesellschaftliche Gründe, sein Kind in der Schulzeit lernen zu lassen, mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Schichten zurechtzukommen.

Klaus-Jürgen Tillmann, 66, war bis 2008 Professor an der Universität Bielefeld und wissenschaftlicher Leiter der dortigen Laborschule. Er lebt in Berlin.
Klaus-Jürgen Tillmann, 66, war bis 2008 Professor an der Universität Bielefeld und wissenschaftlicher Leiter der dortigen Laborschule. Er lebt in Berlin.

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Weil mittlerweile bis zu 50 Prozent der Schüler ein Gymnasium besuchen, wird auch diese Schulform heterogener. Wie elitär sind Gymnasien noch?

Schon als nur 20 Prozent auf dem Gymnasium waren, darunter fast der gesamte männliche Nachwuchs des Bildungsbürgertums, gab es große Begabungsunterschiede. Da war nicht jeder hochbegabt, viele schafften es nur mit zwei Mal Sitzenbleiben zum Abi. Jetzt ist ein größere soziale Heterogenität dazugekommen. Doch Kinder aus Arbeiterfamilien, die ans Gymnasium kommen, sind oft recht leistungsstark, sonst hätten sie ja keine Gymnasialempfehlung. Glücklicherweise gibt es heute an Gymnasien, die eine hohe Migrantenquote haben, gezielte Sprachförderung und andere Stützungsprogramme.

Besonders gut situierte Eltern fürchten um die Qualität des Gymnasiums und erwägen die Flucht in die Privatschulen.

Da sind sie schlecht beraten. Nach jüngeren Studien sind die fachlichen Leistungen an privaten Gymnasien nicht besser als an staatlichen. Das gilt zumal für Internatsschulen, die häufig von Kindern aus der gehobenen Mittelschicht mit Schulproblemen besucht werden, also auch eine Art Reparaturbetriebe sind. In Berlin geht die „Flucht“ eher in Richtung der besonders leistungsfähigen staatlichen Gymnasien mit einem besonderen Profil.

Berlin ist schon recht weit mit der Zweigliedrigkeit, hat sich das System hier bereits bewährt?

Das Ganze ist ja eine sehr durchgreifende Strukturreform, von der sämtliche Schulen jenseits des Gymnasiums betroffen waren. Trotz einzelner Schwierigkeiten etwa beim Schulbau ist das insgesamt recht gut und ruckelfrei gelaufen. Aber ein Problem schält sich heraus: Innerhalb der Sekundarschulen gibt es keine hinreichend heterogene Mischung der Schüler, hier drohen tatsächlich Restschulen zu entstehen. Die Verteilung nach Leistungskriterien unterläuft das Argument für die integrierte Schulform, dass es keine Ausgliederung von schwachen Schülern mehr geben soll.

Was muss sich ändern?

Das reine Regionalprinzip wie bei den Grundschulen wird sich nicht durchsetzen lassen. Aber durch die Schülerauswahl nach dem Leistungsprinzip fördert man die Ausgrenzung, es entstehen dann leicht Sekundarschulen zweiter Klasse.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Klaus-Jürgen Tillmann (66) ist Bildungsforscher. Bis 2008 war er Professor an der Uni Bielefeld und wissenschaftlicher Leiter der dortigen Laborschule. Tillmann lebt in Berlin.

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