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Pisapapst. Jürgen Baumert (68) ist Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Professor für Erziehungswissenschaften an der FU und der HU. Er leitete den deutschen Teil der 2001 veröffentlichten ersten Pisa-Studie. Am 2. Juli wird Baumert im Rahmen einer Festveranstaltung emeritiert. Er arbeitet weiter an großen Bildungsstudien – und will Lesepate werden.

© Thilo Rückeis

Bildungsforscher: "Verantwortung auch für die schwächsten Lerner"

Pisa und die Folgen: Bildungsforscher Jürgen Baumert über Risikoschüler, falsch ausgebildete Lehrer, gute Rektoren – und den neuen Ländervergleich.

Herr Baumert, nach dem Erscheinen der ersten Pisa-Studie 2001 haben Sie gesagt, Deutschland werde für Korrekturen an seinem Schulsystem etwa zehn Jahre brauchen. Hat sich die Schule so entwickelt, wie Sie gehofft haben?

In der Reaktion auf Pisa hat sich manches in der Schulpolitik schneller als erwartet geändert: Bund und Länder haben sich auf eine Dauerbeobachtung des Schulsystems sowohl im internationalen Vergleich als auch im Vergleich zwischen den Ländern geeinigt. Die Ergebnisse werden regelmäßig im nationalen Bildungsbericht dokumentiert. Dies war 30 Jahre lang ein Tabuthema.

Hat sich auch die Schule verändert?

Wenn man Effekte einer verbesserten Frühförderung bei 15-Jährigen messen will, muss man sich noch etwas gedulden. Aber ein großer Erfolg ist der Mentalitätswandel in der Öffentlichkeit und Politik. Die Aufmerksamkeit für Bildung ist größer und differenzierter geworden und die deutsche Überheblichkeit hat einen Dämpfer erhalten. Allen ist klar, dass Versäumnisse im Kindergarten und der Schule das Sozialsystem teuer zu stehen kommen. Und in den Schulen ist angekommen, dass man die Verantwortung auch für die schwächeren Lerner nicht abschieben kann.

Am Herzen liegt Ihnen besonders die „Risikogruppe“: 15-Jährige, die aufgrund ihrer schulischen Leistungen schlechte Chancen haben, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Diese Gruppe ist noch immer zu groß. Was wurde versäumt?

Aber der Trend ist positiv! Ich hoffe, dass wir am 4. Dezember bei der Veröffentlichung der neuen internationalen Pisa-Ergebnisse eine Bestätigung dafür erhalten. Allerdings gibt es nach wie vor eine große Schwäche unseres Systems: Wenn in der Grundschule die ersten Lernschwächen entdeckt werden, gibt es zu wenig Möglichkeiten, gezielt zusätzlich individuell zu fördern. Die Folge ist oft die Kumulation von Versäumnissen. Die Probleme fangen in einem Fach an, dann kommt das nächste dazu und dann die erste Klassenwiederholung. Es fehlt an Flexibilität und schneller Hilfe, wir brauchen zusätzliche Lehrerstunden und sonderpädagogisches, sozialpädagogisches und psychologisches Personal.

Nach Pisa, der Einführung der Bildungsstandards und ihrer zentralen Überprüfung haben viele Eltern und Lehrer den Eindruck, es gehe in der Schule zunehmend ums Pauken.

Die Schüler fühlen sich im Durchschnitt wohl, sie fühlen sich herausgefordert, aber nicht überfordert. Der angebliche generelle Leistungsdruck ist eher Folklore besorgter Eltern, die das Abitur im Blick haben. Auch die Sorge, dass die Tests Druck erzeugen und das Schulcurriculum einengen, ist wenig begründet. Pisa, Iglu und die nationalen Vergleiche zur Überprüfung der Bildungsstandards basieren auf Stichproben; innerhalb von dreißig Jahren hat eine Lehrkraft die Chance, einmal mit einer Klasse getestet zu werden. Dabei bleiben die Schulen anonym und es gibt keinerlei Sanktionen. Das ist kein Vergleich mit den USA oder Großbritannien, wo das Schicksal von Personen und Institutionen vom Gelingen der Tests abhängt.

Bildungsforscher klagen, die Politiker hätten an vielen ihrer Fragestellungen kein Interesse, sie seien es leid, nach jeder Schulstudie massive öffentliche Kritik über sich ergehen lassen zu müssen. Ähnlich empfinden Lehrer. Hat die Öffentlichkeit Pisa satt?

Unter den Kultusministern gibt es immer einmal wieder Stimmen, die zur bequemen Intransparenz der 90er Jahre zurückkehren möchten. Auch für Lehrer ist es unbequem, schlechte Nachrichten zu hören. Aber die Position der Länder insgesamt und des Bundes ist glücklicherweise völlig eindeutig: Das Programm der Transparenz und Qualitätssicherung ist auf Dauer gestellt.

Warum verraten Bildungsforscher nicht, ob es besser ist, Schüler vier oder sechs Jahre in der Grundschule zu halten oder ob die Gemeinschaftsschule einem System mit Gymnasium vorzuziehen ist?

Die Bildungsforschung hat viele einschlägige Befunde vorgelegt, die politische Verantwortung nicht ersetzen, aber deren Voraussetzungen und Folgen klären. Die Entscheidungen über die Schulstruktur muss die Politik treffen, und sie sollte dies informiert tun. In den 70er und 80er Jahren waren Wissenschaftler zuweilen versucht, die bessere Politik zu machen. Zum Glück sind diese Zeiten für die Bildungsforschung vorbei.

Woran liegt es, dass die Ergebnisse der Grundschulstudie Iglu für Deutschland im internationalen Vergleich immer freundlicher ausfallen als die Pisa-Ergebnisse für die Mittelstufe?

Die Leistungen, die in den Kernfächern in der Grundschule noch enger beieinander liegen, entwickeln sich in der gegliederten Sekundarstufe auseinander. Dazu trägt die unterschiedliche Schülerschaft aber auch die unterschiedliche Qualität des Fachunterrichts an den verschiedenen Schularten bei. Mit der Leistungsverteilung ist immer auch eine soziale Aufteilung verbunden. Dies verstärkt den Zusammenhang zwischen Herkunft und Kompetenzerwerb. Glücklicherweise hat sich dieser Zusammenhang in den letzten sechs Jahren nach den Pisa-Ergebnissen etwas gelockert.

Die Länder sind aus den nationalen Pisa- und Iglu-Studien ausgestiegen. War das der Versuch, sich im Ländervergleich von internationalen Standards zu verabschieden?

Nein! Der Pisa-Ländervergleich wurde vernünftigerweise durch einen Vergleich auf der Basis der gemeinsamen Bildungsstandards ersetzt. Diese Tests sind näher am deutschen Unterricht und die Ergebnisse sind besser für die Unterrichtsentwicklung verwertbar. Außerdem wird auch die erste Fremdsprache berücksichtigt. Die neuen Tests sind auch weiterhin mit den internationalen verknüpfbar.

Was erwarten Sie von dem neuen Ländervergleich, der am Mittwoch veröffentlicht wird?

Ich rechne damit, dass die Grundmuster stabil bleiben. Also eine Spitzengruppe mit Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg und am unteren Ende einige Länder, die noch Probleme haben. Gespannt bin ich, ob der positive Befund des Aufsteigers Sachsen-Anhalt stabil ist. Das würde zeigen, dass mäßig funktionierende Schulsysteme nachhaltig verbessert werden können.

Die Schulforschung sagt, die Lehrer müssten die Schüler individuell fördern. Doch viele Lehrer meinen, die Größe der Klassen und die vielfältigen pädagogischen Anforderungen ließen eine Binnendifferenzierung nicht zu. Sehen Sie das auch so?

Generell kann eine erfahrene Lehrkraft auch große Klassen klein machen. Dafür gibt es viele Methoden, die man auch in öffentlichen Berliner Schulen studieren kann. Ein gutes Referendariat führt in diese Methoden ein. Wichtiger als generelle Klassenverkleinerungen sind flexible Mittel für Förderung und zusätzliches pädagogisches Personal.

In der Lehrerausbildung bewegt sich noch immer nicht viel. Was müsste getan werden – und warum geschieht es nicht?

Lehrerbildung ist ein ungeliebtes Kind der Kultusminister. Das größte Problem ist die Zweiteilung in eine längere Gymnasialausbildung mit einem hohen Fachanteil und eine kürzere Haupt- und Realschullehrerausbildung, die größere pädagogische Anteile hat. Für Mathematik konnten wir zeigen, dass dies erhebliche Konsequenzen für Unterricht und Leistungsfortschritt von Schülern hat. In der unterschiedlichen Ausbildung und Kompetenz der Lehrer liegt ein Grund für die unterschiedliche Leistungsentwicklung in den Sekundarschulformen. Vorbildlich ist Nordrhein-Westfalen, wo es jetzt gleiche Studienzeiten und den gleichen Masterabschluss für alle Lehrer gibt.

Es gibt Schulen in sozialen Brennpunkten, denen es gelingt, ihre Schülerschaft erfolgreich voranzubringen. Warum lassen sich solche Modelle nicht vervielfältigen?

Programm und Kultur wirklich guter Schulen beruhen auf harter Arbeit der Schulleitung und des Kollegiums. Das setzt intensive Arbeit im Kollegium, mit Schülern, Eltern und der Wohnumgebung voraus. An Schulen, wo Unterricht und Schulleben misslingen, ist eine der ersten Ursachen fast immer ein langjähriges Versagen der Schulleitung und der Schulaufsicht. Ausbildung und Auswahl der Schulleitungen verdienen mehr Aufmerksamkeit, und bei Fehlentscheidungen sollte es auch Ablösungen geben.

Der vor einer Woche veröffentlichte Nationale Bildungsbericht hat wieder einmal gezeigt, wie sehr der Erfolg in Schule und Ausbildung in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt. Was muss getan werden, um die Kluft zu schließen?

Um soziale und ethnische Unterschiede zu verkleinern, brauchen wir eine konsequente Frühförderung und flexible sehr unterschiedliche Hilfen in der Grund- und Sekundarschule. Im Grunde fängt die Unterstützung für die potenzielle Risikogruppe mit der Geburt an. Bislang gelingt es aber nicht, die Unterstützung durch Kinder- und Familienhilfe kontinuierlich an eine Biografie zu binden, um zu verhindern, dass diese Kinder nach punktuellen Interventionen wieder aus dem Netz herausfallen.

Der Aufstieg durch Bildung sei heute ein „unseriöses Versprechen“, sagt der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth. Je mehr Bildung man verbreite, desto weniger sei sie hinreichend zur Statusverbesserung. Hat er recht?

Bildung ist heute wichtiger denn je, um die Chance auf einen befriedigenden Lebensverlauf zu haben. Die Mindestanforderung an schulische Qualifikationen und Kompetenzen sind gestiegen. Aber Bildung ist keine Garantie für den Aufstieg in die gesellschaftliche Geld- und Machtelite. Akademiker werden nicht unbedingt Spitzenverdiener sein, aber sie werden auch weiterhin kaum von Arbeitslosigkeit bedroht sein.

Die Fragen stellten Amory Burchard und Anja Kühne.

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