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Nichts wie weg: Tausende Berliner Schüler bleiben wochenlang der Schule fern. Viele von ihnen bleiben ohne Abschluss.

© dpa

Bildungsmobilität: In der Schule nach unten durchgereicht

Das deutsche Schulsystem ist durchlässig. Doch vor allem nach unten: Auf jeden Aufsteiger kommen zwei Absteiger, wie eine neue Studie ermittelt hat.

So ist es Tradition in Deutschland: Lehrer und Eltern bemühen sich, nach der Grundschule jeden Schüler derjenigen Schulform zuzuordnen, die zu seinen Leistungen am besten zu passen scheint. Die Entscheidung ist jedoch korrigierbar, das Schulsystem ist durchlässig. Dabei geht es jedoch für die meisten Schüler nach unten, sie werden „abgeschult“, wie es in der Pädagogensprache heißt. Im Schuljahr 2010/2011 kamen auf einen Aufsteiger zwei Absteiger: Rund 50 000 Schüler zwischen Klasse fünf und Klasse zehn wurden auf eine niedrigere Schulform herabgestuft, während nur 23 000 Schülern der Aufstieg gelang. Das geht aus der Studie zum „Schulformwechsel in Deutschland“ hervor, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

„Die Erfahrung schulischen Scheiterns“ könne sich langfristig negativ „auf die Motivation und das Selbstvertrauen des Jugendlichen“ auswirken, erklärt Gabriele Bellenberg, Professorin für Schulforschung und Schulpädagogik in Bochum, in ihrer von der Bertelsmann-Stiftung beauftragten Untersuchung. Die meisten herabgestuften Schüler seien an der Schulform gescheitert, für die sie eine Grundschulempfehlung hatten.

Zwischen den Bundesländern stellt Bellenberg deutliche Unterschiede fest. So kommen in Niedersachsen auf einen Aufsteiger mehr als zehn Absteiger – bundesweit ist Niedersachsen damit führend beim „Abschulen“. In Niedersachsen, Hessen und NRW habe sich die Hauptschule anders als in Bayern und Baden-Württemberg zur „Restschule“ entwickelt. Die anderen elf Länder haben sich von der Hauptschule als eigener Schultyp inzwischen verabschiedet.

In Bayern und Baden-Württemberg gehen noch 25 Prozent der Schüler auf die Hauptschule, die inzwischen mit der Option des mittleren Schulabschlusses aufgewertet wurde. Doch Baden-Württemberg schneidet in der Studie weit besser ab als Bayern. Im Südwesten kommen auf einen Aufsteiger nur 1,5 Absteiger. Die Sitzenbleiberquote ist in Baden-Württemberg deutlich niedriger als in Bayern, das dortige System „deutlich weniger selektiv als das in Bayern“. Baden-Württemberg führe fast 54 Prozent zur Studienberechtigung, Bayern nur 41,2 Prozent.

Auch Ausnahme Bayern wird kritisch beurteilt

Bayern ist zwar das einzige Land, in dem mehr Schüler auf- als absteigen (eins zu 0,9). Dennoch wird es von der Schulforscherin kritisch beurteilt. Denn die Aufwärtsmobilität erklärt sich schon durch den besonders „restriktiven Übergang“ von der Grund- auf die Oberschule. Dieser führt dazu, dass die strenge Entscheidung nach der fünften Klasse von vielen Schülern korrigiert wird, die zu niedrig eingestuft wurden. Jeder zweite Aufsteiger, der in Bayern nach der fünften Klasse auf eine höhere Schulform wechselt, startet dort aber wieder in Klasse fünf: Die Schüler „bezahlen“ ihren Aufstieg also, indem sie sitzen bleiben, kritisiert Bellenberg. Bayern kommt in der fünften Klasse darum auf eine hohe Sitzenbleiberquote von 17 Prozent. Klassenwiederholungen seien aber kein effizienter Umgang mit Ressourcen, schreibt die Schulforscherin unter Berufung auf andere Studien.

Der Vorstellung, dass der bundesweite Trend zu einem bloß zweigliedrigen System von selbst zu besseren Aufstiegschancen führt, widerspricht die Studie. So zeichneten sich die neuen Länder mit ihrem etablierten zweigliedrigen System zwar durch ein günstiges Verhältnis von Auf- zu Absteigern aus. Doch zu wenige machten Abitur. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind es fast nur jene, die von Beginn an auf dem Gymnasium waren, nur wenige Schüler stoßen aus den anderen Oberschulen, die selbst keine Oberstufe anbieten, hinzu, kritisiert Bellenberg. In Sachsen-Anhalt erwerben darum nur 35 Prozent das Abitur, im Bundesschnitt 49 Prozent.

Auch die Hoffnung, der Trend zum zweigliedrigen System werde das Schulwesen übersichtlicher machen, kann die Studie nicht nähren: In der Sekundarstufe I fänden sich 22 verschiedene Schulformen, die sich mit ihren unterschiedlichen Regelungen „kaum mehr überblicken“ ließen. Dies stelle für Schüler, die in ein anderes Land umziehen (2010 mehr als 70 000), „eine erhebliche Hürde“ dar.

Berlin gehört zu den vier Ländern, die sich erst unlängst für ein zweigliedriges System entschieden haben, die Effekte kann die Studie noch nicht messen. Im Moment kommen auf einen Aufsteiger sieben Absteiger – deutlich mehr als im Schnitt. „Bemerkenswert hoch“ sei auch die Quote der Sitzenbleiber in Berlin in den auslaufenden Schulformen und in der Integrierten Gesamtschule/Sekundarschule. Dort liegt sie mit 5,3 Prozent weit über dem Bundesschnitt von 1,6 Prozent.

Jörg Dräger, Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung, erklärte, die Schule müsse viel mehr Wert auf die individuelle Förderung der Schüler legen: „Auf Abschulungen und Klassenwiederholungen kann man dann weitgehend verzichten.“ Peter Meidinger vom Deutschen Philologenverband erklärte hingegen, 30 Prozent der Hauptschüler würden erst nach dem Hauptschulabschluss noch die Mittlere Reife erwerben und über ein Drittel der Realschüler über berufliche Schulen oder den Einstieg in gymnasiale Oberstufen noch das Abitur: „Nicht jeder Wechsel in eine angeblich niederere Schulart ist ein Abstieg.“

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