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Konzentriert. An ostdeutschen Schulen wird deutlich seltener fachfremder Unterricht erteilt als im Westen, was ein Grund für den Erfolg sein könnte. Am Abitur nach zwölf Jahren hielten Sachsen und Thüringen gleich nach der Wende fest.

© IMAGO

Bildungsvergleiche und Turbo-Abitur: Vom Osten bei den Schulen lernen

Schulen in Ostdeutschland schneiden bei Bildungsvergleichen überdurchschnittlich ab, das Turbo-Abitur bereitet dort keine Probleme. Der Besuch an einem Gymnasium in Thüringen zeigt: Sie wollen den Erfolg.

Barbara Steiner hat einen klaren Feind: die Angst vor der Mathematik. „Die will ich den Kindern nehmen“, sagt die 55-Jährige. Dafür wirft sie alles in die Waagschale: ihre Fröhlichkeit, ihren Witz, ihre fachliche und didaktische Kompetenz. An diesem Morgen steht in ihrer 8. Klasse am Hermann-Pistor-Gymnasium im südthüringischen Sonneberg der Satz des Thales auf dem Programm. Es geht um Winkelberechnungen, Kreise und gleichschenklige Dreiecke. Das Prinzip ist schnell erklärt, dann wird geübt: eine Aufgabe nach der anderen.

Trotz Frontalunterricht und obwohl es keinen Praxisbezug gibt, beugen sich alle konzentriert über ihre Bücher und ziehen Kreise mit dem Zirkel. Die Stimmung ist locker. „Wir haben einen guten Draht zueinander“, sagt Steiner über ihre Schülerinnen und Schüler.

Die meisten Lehrer waren schon vor der Wende im Dienst

Es ist ein ganz normaler Schultag an einem typischen Gymnasium Thüringens. Rund 900 Schüler besuchen die Schule, die 2004 durch die Fusion mit dem zweiten Gymnasium der 24 000-Einwohner-Stadt entstanden ist. Barbara Steiner ist seit 32 Jahren Mathematiklehrerin. Zu DDR-Zeiten war sie an der Polytechnischen Oberschule (POS), von der Unterstufe über den Hort bis zur 10. Klasse „habe ich schon alles gemacht“. Von ihren 70 Kollegen waren mehr als 50 wie sie schon vor der Wende im Schuldienst.

Kein Bildungsvergleich in Mathe und Naturwissenschaften ohne Bestnoten für den Osten, vor allem für Sachsen und Thüringen. Als im vergangenen Herbst das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der HU seinen Ländervergleich 2012 vorlegte, zeigten die Daten einen klaren Vorsprung für die Ostländer. Neuntklässler im Osten schnitten in allen untersuchten Fächern besser ab: in Mathe, Biologie, Chemie und Physik. Einzig Bayern landete in Mathe vor Sachsen-Anhalt. Der Ost-West-Unterschied spiegelte sich auch innerhalb Berlins. Dazu wurden zwar keine Daten veröffentlicht. Aber IQB-Direktorin Petra Stanat sagte, Berlin habe von den Ostbezirken profitiert.

Beim Turbo-Abitur hat der Osten Vorsprung

Was also macht der Osten anders? „In Ostdeutschland wurden die Schulen nach der Wende recht besonnen reformiert“, sagt Gerd-Michael Maier, Schulleiter des Hermann-Pistor-Gymnasiums. Vor allem in den Naturwissenschaften, die während der DDR im Gegensatz zu anderen Fächern kaum ideologisch beeinflusst gewesen seien. Zudem haben die Ostländer an bestimmten Prinzipien festgehalten: dem zweigliedrigen Schulsystem und dem Abitur nach zwölf Jahren. Beides verschaffte ihnen später einen Vorsprung, als der Westen mit entsprechenden Reformen nachzog.

Den Transformationsprozess der Schulen hat Anfang der 1990er-Jahre der Bielefelder Pädagogikprofessor Klaus-Jürgen Tillmann untersucht. Sein Befund: Obwohl die Lehrkräfte die Wende als subjektiv sehr belastenden Umbruch erlebten, blieb strukturell vieles beim Alten. Der Rahmen sei stabil geblieben: Das Schulsystem blieb in der Hand des Staates; Neueinstellungen gab es kaum, die meisten Pädagogen blieben im Schuldienst. „Vieles hat sich rübergerettet“, sagt auch Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) an der Uni Kiel. Das liegt vor allem an den Lehrern, von denen sehr viele noch heute unterrichten. Den IQB-Daten zufolge liegt der Altersdurchschnitt der Lehrer in allen ostdeutschen Bundesländern über 50 Jahren. Thüringen liegt dabei an der Spitze: 71 Prozent der Mathelehrer und 62 Prozent der Lehrer in den Naturwissenschaften, deren Klassen für den Ländervergleich getestet wurden, waren zwischen 50 und 59 Jahre alt.

Es wird wenig fachfremder Unterricht erteilt

Dass die Lehrerausbildung in der DDR für das gute Abschneiden der Ostländer in mathematischen und naturwissenschaftlichen Vergleichstests verantwortlich sei, ließe sich aber mit Daten nicht belegen, sagt Dirk Richter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IQB. Zwar sei die Lehrerausbildung in der DDR viel praxisnäher gewesen. „Der Effekt lässt sich aber nicht von der langen Berufserfahrung trennen.“ Ebenso wenig kann Richter zufolge die Annahme bestätigt werden, dass die Lehrer im Osten fachlich kompetenter sind.

Eine positive Folge der zentralistischen DDR-Lehrerausbildung ist dennoch messbar: Der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts ist in allen Ost-Ländern sehr gering. Laut IQB-Studie 2012 wurden nur neun Prozent aller Mathe-, Chemie-, Biologie- und Physikstunden im Osten fachfremd unterrichtet – bundesweit lagen diese Anteile zwischen 10 und 16 Prozent.

Lehrer absolvieren mehr Fortbildungen

Stärker als die Qualifikation der Lehrkräfte scheint ein weiterer Faktor zum Erfolg der Ostländer beizutragen: die Schulkultur und damit verbunden Einstellungen, Handlungsmaximen und Haltungen. „Dies sind Dinge, die nicht durch Verordnungen oder Curricula festgelegt sind, die sich aber in der Praxis so entwickelt haben“, sagt Richter.

Ein Beispiel für ein Stück Schulkultur ist die Fortbildungsbeteiligung. In der DDR war regelmäßige Fortbildung Pflicht. Heute gibt es dazu laut IQB nur in vier Bundesländern konkrete Vorgaben. „Aber auch heute bilden sich die Lehrer im Osten deutlich häufiger fort als die im Westen“, sagt Richter.

Auch am Hermann-Pistor-Gymnasium Sonneberg leben Traditionen fort. Ob Mathematikolympiaden, Chemiewettbewerbe oder Jugend forscht: Die Teilnahme sei für seine Schüler selbstverständlich, betont Schulleiter Maier. Mit dem Schwerpunktgymnasium in Jena – einer ehemaligen DDR-Spezialschule für Mathematik und Naturwissenschaften – besteht eine Kooperation, etwa zur Begabtenförderung und Lehrerfortbildung. Für den Praxisbezug gibt es lange Projektphasen mit Experimenten in Chemie, Physik und Biologie.

Die Schüler begrüßen die Lehrkraft im Chor

Leistung wird ohnehin großgeschrieben. Schülern, die in einem Wettbewerb oder im Zeugnis besonders gut abschneiden, gratuliert man auf der Webseite der Schule, zeigt ihr Foto. Auch die Autorität fällt auf, mit der die Lehrer ihre Klassen im Griff haben. In allen Jahrgangsstufen müssen die Schüler zu Beginn der Stunde aufstehen und die Lehrkraft im Chor begrüßen – selbst nach der Fünf-Minuten-Pause in Doppelstunden. Wer nicht in einem vollständigen Satz antwortet, wird gerügt. Ob mehr Disziplin im Klassenzimmer zum Erfolg ostdeutscher Schulen beiträgt, ist allerdings bisher nicht erforscht.

Trotz Leistungsorientierung und Disziplin wird am Hermann-Pistor-Gymnasium fast nebenbei auch noch Inklusion praktiziert. Eine Schülerin in Barbara Steiners 8. Klasse leidet an selektivem Mutismus – in der Schule spricht sie kein Wort. Also kommunizieren alle Lehrer schriftlich mit ihr: Sie schreibt ihre Fragen und Antworten auf und legt sie vor sich auf den Tisch. Geprüft wird sie ausschließlich schriftlich. „Es ist schon schwierig, da immer dran zu denken“, sagt Steiner. Die 55-Jährige sieht es aber pragmatisch: Das Problem muss ja gelöst werden.

Fördern und Fordern gehört zusammen

Diese Haltung haben die Bildungsforscher Wilfried Bos und Horst Weishaupt Ende der 90er Jahre bei vielen Lehrern in Thüringen und Sachsen beobachtet, die sie mit Pädagogen aus Bayern verglichen. Eines ihrer zentralen Ergebnisse: Für die Lehrer im Osten gehörten Fördern und Fordern schon damals selbstverständlich zusammen – anders als für ihre Kollegen in Bayern.

Steht den Schulen im Osten mit dem Generationenwechsel ein Umbruch bevor? Das muss nicht sein. Vielmehr spricht nach Einschätzung von Olaf Köller einiges dafür, dass sie Bewährtes fortführen. Etwa indem sie weiterhin den Anteil fachfremden Unterrichts gering halten, unter Abiturienten für ein Lehramtsstudium in den MINT-Fächern werben und gute Fortbildungen für Pädagogen anbieten. „Damit haben die Länder ein paar gute Stellschrauben, um ihr Niveau zu halten.“

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