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Kulturell geprägt. Babys sind Einflüssen einer Welt ausgesetzt, die gar nicht anders kann, als auf ihre Lebensäußerungen zu reagieren. Die Hirnentwicklung und damit das Verhalten der Kinder wiederum wird von den Rollenklischees der Großen beeinflusst.

© Vario Images

Biologie: Das rosa Gehirn

Was Mädchen zu Mädchen und Jungs zu Jungs macht. Der kleine Unterschied im Licht der Neurobiologie.

Ein neues Familienmitglied ist da. Alle wollen es auf den Arm nehmen, streicheln, mit ihm spielen. Es ist ein Kätzchen. Ob Kater oder Katze, ist zu diesem Zeitpunkt noch Nebensache. Auch mit menschlichen Babys stünde es nicht viel anders, wenn wir nicht alle vom ersten Ultraschallbild an ihre spätere Entwicklung denken würden. Schon die Namensbändchen, die die Säuglinge in der Geburtsklinik ums Handgelenk tragen, haben geschlechtsspezifische Farben. Farben, die auch ein neues Buch der Neurobiologin Lise Eliot trägt, das derzeit in den USA Aufsehen erregt: „Pink Brain – Blue Brain“ (Houghton Mifflin Harcourt, 2009).

Auf dem Cover ist ein kleiner Junge im hellblauen Pulli zu sehen, Rücken an Rücken mit einem gleich großen Mädchen in Rosa. Sind auch ihre Gehirne so unterschiedlich? Populärwissenschaftliche Bücher, in denen diese These vertreten wird, sind in Mode. Doch schon der Untertitel des Buches verrät, dass die Professorin am Department of Neuroscience der Chicago Medical School hier nicht im Trend liegt: „Wie kleine Unterschiede sich zu beunruhigenden Gräben auswachsen, und was wir dagegen tun können.“

Wir seien zu verliebt in die „Mars-Venus-Philosophie“, sagt die Neurowissenschaftlerin. „Sex-Unterschiede sind eben einfach sexy.“ Doch die Unterschiede zwischen Jungen- und Mädchen-Gehirnen seien von der Natur nicht so festgelegt, wie viele Eltern meinen. Dagegen spreche die Plastizität des Gehirns, das sich selbst bei Erwachsenen ständig verändert. „Ja, es gibt angeborene Unterschiede, doch wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass sie sich durch unser Verhalten als Eltern oder durch die Inszenierung der Geschlechter in der Werbung und in den Medien vergrößern“, sagt Eliot, die bei dem berühmten Gedächtnisforscher Eric Kandel ausgebildet wurde.

Plumpe Gleichsetzungen zwischen „Natur“ und Gehirn lehnt Eliot strikt ab. So kritisiert sie die US-Psychiaterin und Erfolgsautorin Louann Brizendine, die in ihrem Buch „Das weibliche Gehirn“ (2006) Einfühlsamkeit und andere Eigenschaften lobt, die sie für ein natürliches Privileg des weiblichen Gehirns hält. Das kommt bei vielen Leserinnen gut an. Als Frau habe sie zwar nichts dagegen, wenn ihr gute Eigenschaften zugeschrieben werden, kommentiert Eliot. Aber wissenschaftlich sei die These Unsinn.

Eine Feststellung, die viele überraschen dürfte. Veröffentlichen Naturforscher nicht immer wieder wissenschaftliche Studien, die diese Auffassung bestätigen? Zum Beispiel eine 2001 publizierte Untersuchung aus der Arbeitsgruppe des Cambridge-Forschers Simon Baron-Cohen. Diese Studie nahmen nicht nur Brizendine, sondern auch der Harvard-Psychologe Steven Pinker und viele andere Autoren in den letzten Jahren als Beweis für die größere soziale Zugewandtheit weiblicher Babys. Neugeborene Mädchen, über deren Wiege ein lächelndes menschliches Gesicht sich mit einem bunten Mobile Konkurrenz machte, hatten dabei etwas länger beim Gesicht verharrt, Jungen etwas länger beim Mobile.

Eliot zeigt nun, wie sehr die Studie überinterpretiert wurde – wahrscheinlich, weil auch Forscher Geschlechtsdifferenzen sexy finden. Tatsächlich waren die Unterschiede mit 49 zu 41 Prozent bei den Mädchen und 46 zu 52 Prozent bei den Jungen zwar signifikant, aber nicht so weltbewegend, wie suggeriert wurde. Die Wissenschaftlerin, die mit den Babys lächelnd Blickkontakt hielt, kannte teilweise deren Geschlecht und stellte ihr Verhalten womöglich unbewusst darauf ein. Reproduziert werden konnten die Ergebnisse nicht. Ganz im Gegenteil gibt es vorangegangene Studien, die den Resultaten völlig widersprechen. Diese seien aber nach der Baron-Cohen-Studie in Vergessenheit geraten, kritisiert Eliot. Diese sei aber maßgeblich für die verbreitete Annahme, dass schon weibliche Neugeborene sich mehr für soziale, männliche mehr für sachliche Stimuli interessieren.

Dabei sind die unreifen Gehirne vom ersten Atemzug den Einflüssen einer Welt ausgesetzt, die gar nicht anders kann, als auf die Lebensäußerungen der Babys zu reagieren. Deren Reaktionen wiederum bleiben von den Rollenklischees der Großen nicht unbeeinflusst. Eliot geht die Lebensalter und die Studien durch. Die biologischen Unterschiede, die vor ihrem kritischen Auge Bestand haben, sind undramatisch: Hören, Sehen und Riechen entwickeln sich im Säuglingsalter bei beiden Geschlechtern nicht ganz im selben Rhythmus, Mädchen haben während der Kleinkindphase minimale, statistisch nicht signifikante Vorsprünge in der Sprachentwicklung, Jungen ebenso minimale Vorsprünge in der räumlichen Orientierung. Durch die Erwartungen und Einwirkungen der Umwelt werden sie jedoch vergrößert – und zu unveränderlichen Geschlechtsmerkmalen hochgepuscht. Doch selbst dann noch sind die Gehirne von Jungen und Mädchen nach Eliots Überzeugung ziemlich ähnlich. „Jungen und Mädchen unterscheiden sich, aber zwischen ihnen liegen keine Welten.“ Nicht eine Entfernung wie zwischen Mars und Venus, eher die Strecke „zwischen Nord-Dakota und Süd-Dakota“ macht sie zwischen den Geschlechtern aus.

Gezielte Förderung könnte die Strecke verkürzen. Denn sie nimmt Einfluss auf die Bildung neuer Nervenzellen, das Knüpfen synaptischer Verbindungen zwischen ihnen und die Produktion wichtiger Hirnbotenstoffe. Frisch gebackene Väter haben deutlich mehr von den berühmten „Bindungs“-Hormonen Oxytocin, Vasopressin und Prolactin im Blut als andere Männer. Dann sollte man erst recht bei Kindern auf die Auswirkung veränderter Lebensumstände setzen, folgert Eliot: „Die Gehirne von Jungen sind doch genauso plastisch wie die der Männer, die sie aufziehen, wenn nicht sogar mehr.“

Dazu passt eine Studie der Emory University, die Acht- bis Neunjährige sechs Trainingssitzungen lang mit einer Art Uno-Spiel und einem Gesichter-Puzzle trainierten. Die Kinder konnten danach auch im wirklichen Leben Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen deutlich besser deuten – und zwar Jungen wie Mädchen gleichermaßen. Fällt die Förderung bestimmter Fähigkeiten dagegen aus, kann sich das Gehirn nicht dementsprechend entwickeln.

Dass Eliot, Mutter einer Tochter und zweier Söhne, eine besonnene, an praktischen Schlussfolgerungen für den Erziehungsalltag interessierte Wissenschaftlerin ist, hat sie bereits in ihrem ersten Buch unter Beweis gestellt, einem 800-Seiten-Wälzer zur frühkindlichen Hirnentwicklung. Die Neurobiologin ermuntert dazu, mit den Söhnen ganz besonders viel zu reden, statt sie zunehmend mit technischen Geräten allein zu lassen. Töchter sollten dagegen zu ein wenig mehr Risikobereitschaft und offener Konkurrenz ermuntert werden. „In einer zunehmend komplexen und kompetitiven Welt“, schreibt die Autorin, „müssen unsere Jungen emotional intelligent und unsere Mädchen technisch geschickt sein.“

Mit der umfassenden Förderung von Mädchen gibt man sich inzwischen deutlich mehr Mühe als noch vor einigen Jahrzehnten. Bei Jungen aber finde man es leichter, „das Testosteron“ oder die „langsamere Entwicklung“ verantwortlich zu machen, wenn sie aggressiv werden oder sich in der Schule schwertun, sagt Eliot. „Wenn wir mehr darauf achten, wie Geschlechterunterschiede entstehen, statt sie auf feststehende biologische Fakten zurückzuführen, können wir allen Kindern dabei helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten, beunruhigende Gräben zwischen Jungen und Mädchen schließen und den Gender-Krieg endlich beenden.“

Für die Eltern könnte das in Arbeit ausarten. Auch das ist möglicherweise ein Grund dafür, dass es so beliebt ist, die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen als naturgegeben hinzunehmen.

Unter dem Titel „Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen“ erscheint Eliots Buch im September beim Berlin-Verlag.

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