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Trübe Aussicht. Seit tausenden Jahren behaupten Wahrsager, in die Zukunft blicken zu können. Beweisen konnte das noch keiner. Der amerikanische Psychologe Daryl Bem meint jetzt, Hinweise gefunden zu haben, dass alle Menschen diese Fähigkeit haben - jedenfalls ein wenig. Foto: avatra/Peter Widmann

© avatra/peter widmann

Paranormale Phänomene: Blick in die Zukunft

Neuer Bericht: „Die Zukunft fühlen“. Ein renommierter US-Psychologe glaubt, Anhaltspunkte für paranormale Fähigkeiten gefunden zu haben.

Auf einem Computerbildschirm sind zwei geschlossene Vorhänge zu sehen, einer links, einer rechts. Hinter einem erscheint beim Klicken darauf ein erotisches Bild, hinter dem anderen eine nackte Wand. Es gilt natürlich, auf den Vorhang mit dem versteckten Bild zu klicken. Wer bei diesem Experiment einfach rät – und etwas anderes bleibt ja offenbar nicht übrig – hat eine Chance von 50 Prozent, per Zufall richtig zu tippen. Doch als 100 Versuchspersonen je 36-mal raten mussten, kamen sie auf eine Trefferquote von 53 Prozent. Ist das noch durch Glück zu erklären?

Die Teilnehmer der Studie scheinen Ereignisse zu ahnen, die noch gar nicht eingetreten sind. Denn erst nach ihrer Wahl bestimmt ein Zufallsgenerator, wo das Bild auftauchen wird. „Die Zukunft fühlen“ überschrieb der emeritierte Psychologe Daryl Bem seinen Bericht über dieses und andere Experimente, der demnächst im „Journal of Personality and Social Psychology“ erscheinen soll. Schon jetzt gibt es in der Fachwelt lebhafte Reaktionen. Denn die Zeitschrift ist renommiert und Bem kennt jeder, der im Psychologiestudium aufgepasst hat. Er forscht an der Cornell-Universität in Ithaca im US-Bundesstaat New York.

Bem präsentiert neun Experimente mit insgesamt über tausend Teilnehmern. Acht von ihnen sprechen dafür, dass Menschen in die Zukunft sehen können, wenn auch in eher bescheidenem Umfang. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Treffer nur durch Zufall zustande gekommen sind, beträgt laut Bem eins zu 74 Milliarden. Acht Jahre hat Bem an diesen Studien gearbeitet. Damit niemand die Ergebnisse unabsichtlich beeinflussen konnte, liefen die Experimente vollautomatisch am Computer ab.

Dabei ging es zu wie im von Bem erwähnten Wunderland der kleinen Alice. Sie wird einmal von der Weißen Königin belehrt, dass ein Gedächtnis doch sehr armselig sei, wenn es sich nur an Vergangenes erinnert. Die Königin erinnert sich am besten an Dinge, „die übernächste Woche geschahen“. Nach dieser Logik ließ Bem Versuchspersonen einen Teil der Wörter einer langen Liste lernen. Doch abgefragt wurden sie schon vorher, nämlich nachdem die Versuchspersonen nur einmal kurz die ganze Liste gesehen hatten. Trotzdem schrieben sie bevorzugt die auf, die sie nachher erst üben würden.

Besonders gut schnitten Menschen ab, die auf der Suche nach neuen Reizen sind („sensation seekers“). Das war schon in früheren parapsychologischen Studien aufgefallen. Den Grund kennt niemand.

Ganz allgemein vermutet Bem, dass parapsychologische Fähigkeiten sich im Lauf der Evolution entwickelt und als nützlich erwiesen haben, etwa bei der Partnersuche und Gefahr. Daher verwendet er erotische Bilder und Schockmotive. Die außersinnliche Wahrnehmung könnte ja auf Sex und Säbelzahntiger geeicht sein.

Wie Ereignisse in der Zukunft die momentane Wahrnehmung beeinflussen könnten, weiß Bem auch nicht. Allerdings hat er Physik studiert, bevor er sich der Psychologie zuwandte. So kann er darauf verweisen, dass auch in der modernen Quantentheorie vieles dem gesunden Menschenverstand widerspricht.

Aber hat Bem überhaupt bewiesen, dass Menschen irgendwie in die Zukunft blicken können? Viele Psychologen glauben das nicht.

Am weitesten geht ein Team der Universität Amsterdam um Eric-Jan Wagenmakers. Er wirft Bem vor, die Daten mit den falschen statistischen Methoden auszuwerten. Allerdings gibt Wagenmakers zu, dass diese Methoden weit verbreitet sind. Daher sei „etwas grundlegend falsch mit der Art, in der experimentelle Psychologen ihre Studien anlegen und auswerten“. Hinter der Kritik verbirgt sich mithin ein Grundsatzstreit der Experten, in den Bem eher zufällig hineingeraten ist.

Wirkliche Fehler konnten die Skeptiker bislang nicht nachweisen. Selbst der ausgewiesene Parapsychologie-Zweifler Richard Wiseman von der britischen University of Hertfordshire fand nur eine Kleinigkeit und die hat Bem inzwischen ausgeräumt.

Bleibt die große Frage, ob andere Forscher die Ergebnisse werden bestätigen können. Unabhängige Wiederholungen sind seit jeher die Achillesferse der Parapsychologie, wie Ray Hyman von der Universität von Oregon erst diesen Sommer wieder beklagte. Der führende Kritiker bemängelt, die Parapsychologen hätten es in „über einem Jahrhundert nicht geschafft, auch nur ein einziges reproduzierbares Experiment hervorzubringen“.

Anlass war die Debatte um die letzte große Anstrengung dazu: die Ganzfeld-Studien. Auch Bem war maßgeblich an ihnen beteiligt. Er sollte Fehler in den ersten Ganzfeld-Experimenten finden. Als ihm dies nicht gelang, stieg er selbst als Forscher ein.

Das Ganzfeld ist einfach ein rotes Nichts, in das die Versuchsperson blickt. Denn sie hat halbe Tischtennisbälle auf den Augen, die von rotem Licht beschienen werden. So von der normalen Wahrnehmung abgeschnitten, soll sie Gedanken von einem „Sender“ empfangen, der sich beispielsweise auf ein Bild des Weihnachtsmanns mit Coca-Cola-Flasche konzentriert. Einem „Empfänger“ kam dabei ein „Mann mit einem dunklen Bart“ in den Sinn sowie eine Coca-Cola-Werbetafel. Bis heute ist umstritten, ob Studien aus den letzten 25 Jahren die ursprüngliche Erfolgsmeldung von 1985 bestätigen.

Bei Bems neuer Studie läuft es nicht unbedingt besser. Forscher in Schweden, England und den USA konnten seine Ergebnisse nur bedingt oder gar nicht bestätigen. Wer will, kann das Wörter-Lern-Experiment auf einer Website der Carnegie Mellon University selbst probieren (Englischkenntnisse vorausgesetzt).

Es dauert etwa eine Viertelstunde, dann folgt auch schon die Auswertung. Bei einem Versuch des Autors lautete sie übersetzt: „Wir haben eine außersinnliche Wahrnehmung von 0 Prozent für sie errechnet.“ Den meisten anderen der bisher gut 300 Teilnehmer ging es nicht besser, null Prozent außersinnliche Fähigkeiten sind bislang der Durchschnittswert.

Warum klappt es bei Bem mit dem Übersinnlichen und bei den Kollegen nicht? Solche Fragen stellen sich Parapsychologen nun schon seit mehr als 100 Jahren. Zum aktuellen Fall spottet ein britischer Psychologie-Blogger: „Vielleicht ist was im Trinkwasser der Cornell-Universität.“

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