zum Hauptinhalt
Verarztet. Studierende simulieren eine Wiederbelebung. Derzeit kommen 43 000 Medizinbewerber auf 9000 Studienplätze.

© J. Woitas/dpa

Bundesverfassungsgericht: „Fordert Karlsruhe mehr Medizinstudienplätze, wäre das ein Novum“

Heute verhandelt das Bundesverfassungsgericht über den Numerus Clausus im Fach Medizin. Ein Experte erklärt, worum es geht - und wie das Auswahlverfahren für angehende Ärzte gerechter werden könnte.

Herr Hachmeister, welche Chancen haben Abiturienten auf einen Medizin-Studienplatz, die eine Note von 2,5 mitbringen?

Das ist ziemlich aussichtslos. Es gibt drei Quoten, über die man eine Chance bekommen kann. Die Medizin-Studienplätze werden quasi nach einer 20-20-60-Formel vergeben. Zunächst werden 20 Prozent der Plätze über die Abiturbestenquote verteilt, in der nur die Note zählt. Das hat man mit 2,5 überhaupt keine Chance. Man braucht eine 1,0 oder 1,1. Das ist schon heftig.

Wie sieht es bei den anderen Quoten aus?

Weitere 20 Prozent werden an die Bewerber mit der längsten Wartezeit vergeben. Da hat man theoretisch eine hundertprozentige Chance – allerdings müsste man derzeit 14 bis 15 Semester warten. Die restlichen 60 Prozent werden über das sogenannte Auswahlverfahren der Hochschulen verteilt. Unis dürfen dabei neben der Abiturnote andere Kriterien berücksichtigen: Etwa einen Test, der dem früheren Medizinertest ähnelt, oder Auswahlgespräche. Hier können auch Bewerber ohne eine 1,0 direkt zu einem Studienplatz kommen.

Wo liegt da die Notengrenze?

Das ist ein kompliziertes Rechenspiel, weil die Unis unterschiedliche Kriterien heranziehen und unterschiedlich miteinander verrechnen. Bei manchen zählt zu 51 Prozent die Note, zu 49 Prozent der Test. Bei anderen gibt es einen Bonus von 0,8 Punkten auf die Abiturnote, wenn man einen besonders guten Test mitbringt – oder einen Bonus von 0,5 Punkten durch eine einschlägige Berufsausbildung. Es ist insgesamt sehr unübersichtlich, wie stark man wo seinen Notenschnitt verbessern kann. Das ist eine besondere Schwierigkeit für schwächere Bewerber: Sie können sich kaum ausrechnen, an welcher Uni die Chancen für sie am höchsten sind. Ein Einserabitur ist in der Regel aber notwendig – das kann man ziemlich sicher sagen.

Demnächst befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Auswahlverfahren für das Medizinstudium. Karlsruhe muss eine Einschätzung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen prüfen: Das hält das gesamte Auswahlverfahren nicht mehr für verfassungsgemäß. Es widerspreche dem Grundsatz, dass jeder Bewerber auch in NC-Fächern eine faire Chance haben müsse. Können Sie die Einschätzung der Verwaltungsrichter nachvollziehen?

Das kann ich durchaus nachvollziehen. Es gibt in Deutschland das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Berufswahl. Arzt kann man aber nur werden, wenn man Medizin studiert hat, und da kommen viele eben nicht zum Zug. Der eigentliche Knackpunkt ist aber nicht das Auswahlverfahren, sondern das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Und das ist enorm. Im Jahr 2000 kamen auf damals rund 7800 Medizin-Plätze in Deutschland nur 20 000 Bewerber. Jetzt sind es knapp 43 000 Bewerber für rund 9000 Plätze.

Das Verwaltungsgericht beanstandet, die Unis würden die Abiturnote bei der Auswahl der Studierenden überbetonen – selbst dann, wenn sie andere Kriterien heranziehen könnten. Damit würde de facto ein Großteil der Bewerberinnen und Bewerber ausgeschlossen. Wie sehen Sie das?

Zunächst einmal müssen die Hochschulen der Abiturnote nach den gesetzlichen Vorgaben einen „maßgeblichen Einfluss“ auf die Entscheidung einräumen. Unter Juristen ist ziemlich klar, dass das mindestens 50 Prozent bedeutet. Würde bei einer Hochschule die Abiturnote nur noch zu 45 Prozent zählen, wäre das sofort ein Einfallstor für Klagen.

Dennoch: Machen die Hochschulen alles, um andere Kriterien zu berücksichtigen?

Lediglich drei der 34 Unis, die Medizin anbieten, nutzen auch im Auswahlverfahren der Hochschulen ausschließlich die Abiturnote. Hier kommen also sogar insgesamt für 80 Prozent der Plätze die Abiturbesten zum Zuge. Bei diesen drei Unis wäre eine 1,2 nötig. 24 Hochschulen berücksichtigen hingegen zusätzlich den Medizinertest, 21 Hochschulen Berufserfahrung. Auswahlgespräche werden seltener durchgeführt: Sie sind sehr aufwendig und haben letztlich eine nur begrenzte Aussagekraft. Natürlich könnte man streiten, ob nicht sämtliche Hochschulen Bonuspunkte für eine Berufsausbildung, etwa als Krankenpfleger, vergeben sollten. Das Grundproblem bleibt aber das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage bei den Studienplätzen.

Die Gelsenkirchener Richter fordern auch Landesquoten, um die aus ihrer Sicht nicht vergleichbaren Länderabis auszugleichen. Wäre das ein Weg, um Ungerechtigkeiten abzumildern?

Es gibt ja schon eine Länderquote – bei der Abiturbestenquote. Da konkurriert man jeweils nur mit denjenigen, die im selben Bundesland Abitur gemacht haben. In der derzeitigen Situation ist das allerdings vergleichsweise sinnlos, weil man praktisch überall eine 1,0 braucht. Bei den anderen Quoten gibt es diesen Ausgleich bisher aber nicht. Es wäre da wahrscheinlich praktikabler, Abiturienten aus dem Land X einen Bonus von 0,1 zu geben, denen aus Land Y einen kleinen Malus. Ob es das allerdings besser macht, ist zweifelhaft. Nicht nur zwischen Bundesländern, auch zwischen Schulen schwanken ja die Noten.

Cort-Denis Hachmeister arbeitet beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und ist dort leitender Experte für Datenanalyse. Seine Schwerpunkte sind Studienwahl und Hochschulzugang.
Cort-Denis Hachmeister arbeitet beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und ist dort leitender Experte für Datenanalyse. Seine Schwerpunkte sind Studienwahl und Hochschulzugang.

© CHE/Promo

Wie aussagekräftig ist die Abi-Note, wenn es um die Auswahl künftiger Ärzte geht?

Die Abiturnote ist laut mehrerer Studien das Kriterium mit der höchsten Vorhersagekraft für den Studienerfolg. Vorhergesagt wird wohlgemerkt der Studienerfolg – nicht der Berufserfolg. In Kombination mit dem Medizinertest kann die Prognosekraft noch etwas gesteigert werden. Aber zusammen erklären sie auch nur etwa ein Viertel des Studienerfolgs. Insofern ist es zwar schon sinnvoll, die Abiturnote bei Vergabe zu berücksichtigen – aber die Vergabe zu hundert Prozent davon abhängig zu machen, ist eben auch nicht fair.

Schwächere Abiturienten sollen den Umweg über die Wartezeit gehen können: Wer wartet, bekommt irgendwann unabhängig von der Note einen Studienplatz. Die aktuelle Wartezeit von 14 bis 15 Semestern beanstanden die Gelsenkirchener Richter aber ebenfalls als verfassungswidrig. Hat sich die Wartezeit als Kriterium überholt?

Im Gegenteil. Die Wartezeitquote stellt sicher, dass theoretisch jeder, der Abitur hat, seine Freiheit der Berufswahl wahrnehmen kann. Ein anderes Verfahren ist da kaum vorstellbar. Die Frage lautet aber tatsächlich: Wie lange Warten ist verfassungsmäßig okay? Es gibt den Grundsatz, dass die Grenze des Erträglichen erreicht ist, wenn das Warten länger als das Studium selbst dauert. Das ist in der Medizin inzwischen der Fall. Erhöht man die Wartezeitquote, etwa wieder auf 40 Prozent, müsste man nicht mehr so lange warten, aber es müssten mehr Bewerber warten. Denn dann reduzieren sich die Plätze für die anderen Quoten. Die Auswahl wird also noch schärfer, wenn man direkt reinkommen will. Das wird eine Schwierigkeit für das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden: Was ist fairer?

Im „Masterplan Medizin“ wollen Bund und Länder die Unis dazu verpflichten, soziale Kompetenzen und eine besondere Motivation für das Medizinstudium bei der Studierendenauswahl stärker zu berücksichtigen. Wäre das sinnvoll?

Das mit den sozialen Kompetenzen hört sich erst mal schön an – ist aber schwierig. Es geht um Kompetenzen, die die Bewerber erst dann richtig entwickelt haben sollen, wenn sie zehn Jahre später als Ärztin oder Arzt zu arbeiten beginnen. Das für Zehntausende, teilweise erst 17 oder 18 Jahre alte Bewerber mit einem irgendwie gearteten Test vorhersagen zu wollen, halte ich weder methodisch noch organisatorisch für machbar.

Und die Motivation?

Das könnte man biografisch an einer erfolgreichen Berufsausbildung, an einem freiwilligen sozialen Jahr oder auch an dem Ergebnis eines Wissenstests festmachen. Gewichtet man das stärker als bisher, hätten die erfolglosen Bewerber zumindest das Gefühl, etwas tun zu können, um ihre Chancen deutlich zu verbessern, statt einfach nur zu warten. Das halte ich für sinnvoll.

Würde die Rückkehr zu einem bundesweit verpflichtenden, einheitlichen Medizinertest helfen, wie er in den 1980er und 1990er Jahren üblich war?

So weit sind wir ja schon fast, wenn inzwischen 24 der 34 Hochschulen den Test verwenden. Der ist praktisch schleichend wiedereingeführt worden. Er bricht die Strenge der Abiturnote etwas auf. Damals wurde er letztlich nur abgeschafft, weil die Nachfrage nach Medizinstudienplätzen geringer wurde und mit wenigen Semestern Wartezeit letztlich jeder einen Platz bekam. Insofern konnte man sich damals das aufwendige Testverfahren sparen, wenn dann nachher doch alle zugelassen werden.

Ist es vorstellbar, dass Karlsruhe die Abiturnote als Auswahlkriterium komplett verwirft oder sogar Zulassungsbeschränkungen insgesamt für nichtig erklärt?

Das kann ich mir beides nicht vorstellen. Es wäre absurd, die Note der Qualifikation für das Studium nicht als Entscheidungsgrundlage für die Studienplatzvergabe heranzuziehen. Dann könnte man sich Abiturnoten fast ganz sparen. Einfach alle Bewerber zuzulassen macht auch keinen Sinn. Die Hochschulen sind schon jetzt verpflichtet, Bewerber bis zur absoluten Kapazitätsgrenze aufzunehmen, jenseits derer ein Studienbetrieb nicht mehr möglich ist. Die eigentlich spannende Frage ist, ob Karlsruhe zu der Auffassung kommt, dass „dem Staat“ die Einrichtung weiterer Medizinstudienplätze zugemutet werden kann. Es gibt heute weniger Medizin-Studienplätze als vor der Wende, unter Ärzten herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Würde Karlsruhe mehr Plätze oder zumindest eine Art Bedarfsplanung anmahnen, wäre das ein echtes Novum.

Die Medizin ist eines von vier Fächern, die einen bundesweiten NC haben. Zudem haben rund 45 Prozent der grundständigen Fächer einen lokalen NC. Welche Auswirkungen könnte das Karlsruher Urteil auf alle anderen NC-Studiengänge haben?

Auf die Fächer mit lokalem NC wird das vermutlich keine Auswirkung haben. Hier kann man seinen Studienwunsch ja irgendwo in Deutschland verwirklichen, nur vielleicht nicht an der Wunsch-Hochschule. Das ist zumutbar. Unter den bundesweit vergebenen Fächern sind die Verhältnisse in der Zahnmedizin und der Tiermedizin dagegen sehr ähnlich wie in Medizin – sechs Jahre Wartezeit für Zahnmedizin und fünf Jahre für Tiermedizin. Prekär sieht es zudem im Fach Psychologie aus, wo es ebenfalls lange Wartezeiten und kaum Chancen für Bewerber mit schlechterer Abinote gibt. Da gibt es zwar immerhin viele Fachhochschulen, die zum Beispiel Wirtschaftspsychologie anbieten und so für etwas Entlastung sorgen. Wer aber kassenzugelassener Psychotherapeut werden will, kann das nur mit Psychologie- oder Medizinstudium. Insofern könnte man da wie in der Medizin eine Einschränkung des Grundrechts auf freie Berufswahl sehen.

Die Fragen stellte Tilmann Warnecke.

Zur Startseite