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Einen nachhaltigen Aufstieg für benachteiligte Kinder ermögliche eine früh einsetzende, intensive Förderung, sagen Schweizer Forscher.

© dpa

Chancengleichheit im Bildungssystem: Den Aufstieg schaffen

Die Frage nach dem richtigen Weg zur Chancengleichheit in der Schule prägte eine Tagung zu Ehren von Pisa-Papst Jürgen Baumert

Seit 1975 treibt viele Bildungsforscher in Deutschland eine Angst um: Nie wieder wollen sie sich nach dem Debakel des Deutschen Bildungsrats in die Ausgestaltung der konkreten Schulpolitik einmischen. Denn genau diese Einmischung führte 1975 zum Ende des Deutschen Bildungsrates, nachdem dieser sich für die Umwandlung des dreigliedrigen deutschen Schulsystems stark gemacht und die Gesamtschulen als fortschrittliche Lösung propagiert hatte. Das gefiel zwar den Linken von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) bis zur SPD. Für die CDU/ CSU war es aber Ausdruck sozialistischer Tendenzen. Zeitweilig machte die Union die Erhaltung der Hauptschule zum Schlüsselthema ihrer Schulpolitik. Der Schulkrieg in der Kultusministerkonferenz dauerte Jahrzehnte.

Heute fragt man sich, ob die inzwischen erreichte Befriedung an der Schulfront einem neuen Schulkrieg weichen wird, wenn es um die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre geht und anschließend die weiterführenden Schulen nicht mehr in Haupt-, Realschulen und Gymnasien gegliedert werden, sondern in eine Gemeinschaftsschule für alle oder zumindest in eine neue Mittelschule.

Diese Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man der Emeritierungsfeier für Jürgen Baumert, dem langjährigen Direktor des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, beiwohnt. Baumert ist Nachfolger von Hellmut Becker, der sich als Mitglied des Deutschen Bildungsrats in den 1970er Jahren so kräftig in die Schulpolitik eingemischt hatte.

Baumert hat es vermieden, sich und die geballte Kraft seines Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zur Partei in der konkreten Schulpolitik zu machen. Er war zwar als Mister Pisa ein gefragter Experte für die Politik, aber nur solange, wie er im weltweiten Vergleich der OECD über die Schulleistungen als verlässlicher Pisa-Experte fungierte. „Die Entscheidungen über die Schulstruktur muss die Politik treffen, und sie sollte dies informiert tun. In den 70er und 80er Jahren waren Wissenschaftler zuweilen versucht, die bessere Politik zu machen. Zum Glück sind diese Zeiten für die Bildungsforschung vorbei“, sagte Baumert kürzlich in einem Interview mit dem Tagesspiegel.

Baumert und seine Mitstreiter konnten mit dem Rückenwind der OECD die empirische Wende in der deutschen Bildungsforschung einleiten. Das hieß konkret: Weg von der ideologisch geprägten Annahme über die beste aller Schulen hin zu einer mit Messwerten und Daten ausgerüsteten Wirklichkeitsbeobachtung. Baumerts Schüler in der empirischen Schulforschung findet man heute überall.

Auch auf dem Festcolloquium zur Emeritierung von Jürgen Baumert im Harnack-Haus der Freien Universität mussten die Zuhörer am Freitag lange warten, bis sie konkrete Empfehlungen für die deutsche Schulpolitik hören konnten. Nicht etwa von einem Deutschen, sondern von einem Schweizer Kollegen aus den Erziehungswissenschaften: Helmut Fend, Emeritus an der Universität Zürich. Stimmt es eigentlich, fragte Fend, dass längeres gemeinsames Lernen – zum Beispiel sechs Jahre in der Grundschule für alle – die Chancengleichheit erhöht?

Es gab schon in den 1970er und 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik 638 integrierte Gesamtschulen und in mehreren Ländern so genannte Orientierungsstufen, in denen das gemeinsame Lernen bis zur siebten Klasse möglich war: Etwa in Bremen, Niedersachsen und Hessen. Bis zur Wiedervereinigung haben immerhin 374 900 Schüler solche Orientierungsstufen besucht.

Für die Vergleichsuntersuchungen von Fend über die Effekte des längeren gemeinsamen Lernens („Life-Studie“) gab es also genügend Schülerinnen und Schüler. Helmut Fend kommt zu folgendem Ergebnis: Kurzfristig scheine das längere gemeinsame Lernen die Chancengleichheit zu erhöhen. Betrachtet man jedoch die Frage einer langfristigen Wirkung bis in die Berufswelt hinein, so fehlt es nach der Einschätzung von Fend an der Nachhaltigkeit. Bei den 35-Jährigen seien keine positiven Wirkungen mehr zu entdecken gewesen.

Für die Nachhaltigkeit empfiehlt Fend, sich auf eine gezielte soziale Förderung zu konzentrieren: Kinder aus Familien mit geringem Einkommen sollten Unterstützung erhalten, damit der frühe Besuch von Kindergärten und vorschulischen Einrichtungen nicht am Geld scheitert. Gezielte Förderung sollten auch jene 20 Prozent der Schüler erhalten, die durch die zahlreichen empirischen Bildungsstudien der vergangenen zehn Jahre als Risikogruppe einzuschätzen sind. Die Ausweitung der Bildungszeit auf den Nachmittag in den Ganztagsschulen ist in der Sicht von Fend ebenfalls ein Weg zu mehr Chancengleichheit. Zumindest die Ungleichheit von heute könnte durch solche Programme verringert werden.

Fend beruft sich auf eine Studie zum Bildungsverlauf in einer längeren Lebensspanne. Eine Kohorte von 1600 Personen wurde in dem Zeitraum von 1967 bis 2002 von Wissenschaftlern beobachtet, und zwar im Alter vom 12. bis zum 35. Lebensjahr. Dass die Befunde auch heute noch gelten können, liegt an vergleichbaren Entwicklungen: 1967 befand sich die Bundesrepublik in den Anfängen der Bildungsexpansion. Erste Gesamtschulen wurden Mitte der 1960er Jahre eingerichtet. Aufstieg durch Bildung war die Verheißung.

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