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Gute Schule. Nach dem Pisa-Schock im Jahr 2001 sind Deutschlands Schulen chancengerechter geworden, stellt die Bertelsmann-Stiftung fest. Aber zwischen den Ländern gibt es große Unterschiede.

© Armin Weigel/dpa

"Chancenspiegel" der Bertelsmann-Stiftung: Bildungschancen? Eine Frage der Herkunft

Deutschlands Schulsysteme bieten mehr Chancengerechtigkeit als früher. Doch noch immer ist soziale Herkunft für Bildungserfolg entscheidend. Und die Kluft zwischen den Bundesländern ist noch größer geworden.

In keinem OECD-Land hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland, lautete der schockierende Befund aus der Pisa-Studie des Jahres 2000. Seitdem haben alle Bundesländer ihre Schulsysteme „leistungsstärker und chancengerechter“ gemacht, heißt es im neuen „Chancenspiegel“ der Bertelsmann-Stiftung. Doch noch immer bleibt der Schulerfolg der Schülerinnen und Schüler stark an ihre soziale Herkunft gebunden. Neuntklässler aus sozioökonomisch schwächeren Milieus liegen in ihrer Lesekompetenz im Schnitt weiterhin mehr als zwei Schuljahre hinter ihren Klassenkameraden aus privilegierten Milieus zurück.

Und die Kluft zwischen den Bildungschancen in den einzelnen Bundesländern ist seit 2002 sogar größer geworden, stellen die Bildungsforscher Wilfried Bos (Dortmund) und Nils Berkemeyer (Jena) fest, die Autoren der Studie. Für die Studie wurden keine neuen Daten erhoben, sondern bereits vorliegende Schulstatistiken und Bildungsstudien wie Pisa, Iglu oder der IQB Bildungstrend ausgewertet.

Ganztagsschule

Aus Sicht der Bertelsmann-Stiftung und der Wissenschaftler trägt die Ganztagsschule zur Chancengerechtigkeit im Bildungswesen bei. Sie stellen entscheidende Fortschritte fest: Im Jahr 2002 ging erst einer von zehn Schülern auf eine Ganztagsschule, heute sind es vier von zehn. Doch zwischen den Ländern sind die Unterschiede beträchtlich. So besuchen in Hamburg 88, in Sachsen 80 Prozent eine Schule mit Ganztagsangebot, in Bayern aber nur 15 Prozent. Der Abstand der Bundesländer mit den meisten und den wenigsten Ganztagsplätzen habe sich zwischen 2002 und 2014 beinahe vervierfacht, stellen die Autoren fest. Wird die Ganztagsschule im bisherigen Tempo weiter ausgebaut, vergehen mindestens noch drei Jahrzehnte, bis alle Kinder in Deutschland einen Ganztagsplatz erhalten, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Bund und Länder müssten mehr investieren, auch in die Qualität: „Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz, damit der Reformeifer nicht erlahmt.“

Förderschule

Die Länder integrieren inzwischen deutlich mehr Schüler in den Regelunterricht (Stichwort "Inklusion") als noch im vergangenen Jahrzehnt, stellen die Forscher fest. Doch gleichzeitig ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler, bei denen ein Förderbedarf festgestellt wird, stetig gestiegen. So werden in Deutschland noch fast genauso viele Kinder separat unterrichtet wie im Jahr 2002: Gingen damals 4,8 Prozent auf eine Förderschule, sind es heute 4,6 Prozent. „Obwohl die Inklusion steigt, geht die Exklusion also kaum zurück“, folgern die Forscher. Wiederum stellen sie eklatante Unterschiede zwischen den Bundesländern fest: Während in Bremen nur 1,5 Prozent eine Förderschule besuchen, sind es in Mecklenburg-Vorpommern fast sieben Prozent.

Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss

Längere Zeit sank das Risiko eines Schulabbruchs für die Schülerinnen und Schüler, auch unter denen ohne deutschen Pass. Im Jahr 2002 beendeten 9,2 Prozent ihre Pflichtschulzeit ohne Hauptschulabschluss, im Jahr 2014 waren es nur noch 5,8 Prozent. Seit 2011 beobachten die Forscher aber eine Entkoppelung: Der Anteil aller Schüler ohne Abschluss sinkt weiter – doch der der ausländischen Schüler ist leicht auf 12,9 Prozent angestiegen. Auch das ist noch ein deutlich besserer Wert als der im Jahr 2002, als 16,7 Prozent der ausländischen Jugendlichen ihre Pflichtschulzeit ohne Abschluss beendeten. In Brandenburg bleiben jedoch nur vier Prozent der ausländischen Schüler ohne Abschluss, in Sachsen aber 27 Prozent.

Abitur

Im Jahr 2002 machte gut jeder Dritte eines Altersjahrgangs das (Fach-)Abitur (38,2 Prozent). Im Jahr 2014 waren es schon 52,2 Prozent. Die Kluft zwischen den Bundesländern hat sich laut „Chancenspiegel“ aber seit 2002 vergrößert. In der Spitzengruppe, zu der Berlin, Baden-Württemberg, das Saarland und Hamburg gehören, liegt der durchschnittliche Mittelwert bei 59,3 Prozent, wobei Hamburg mit 62,5 Prozent den größten Anteil von Abiturientinnen und Abiturienten hat. Die geringsten Chancen auf ein (Fach-)Abi haben die Schüler in Sachsen Anhalt, hier lag der Anteil im Jahr 2014 nur bei 38,1 Prozent.

Kompetenzerwerb

Was Schülerinnen und Schüler im Schnitt können, unterscheidet sich je nach Bundesland deutlich, wie aus der IQB-Studie Bildungstrend bekannt ist. Drei Lernjahre trennen die Neuntklässler in Bremen von denen in Sachsen. Die Neuntklässler aus den Stadtstaaten Berlin und Bremen liegen im Schnitt mehr als zwei Jahre hinter den Schülern der umgebenden Flächenländer Brandenburg und Niedersachsen zurück. „Nicht hinzunehmen“ sei das, sagt der Schulforscher Berkemeyer. Von vergleichbaren Kompetenzen – also Chancen – könne über die sechzehn Bundesländer hinweg keine Rede sein.

Berlin

Berlin bietet auch diesmal im „Chancenspiegel“ ein gemischtes Bild. Die Zahl der Schüler, die auf einer Förderschule sind, liegt mit 3,2 Prozent unter dem Bundesschnitt von 4,6 Prozent. 84,9 Prozent aller Berliner Schulen sind Ganztagsschulen – im Bundesschnitt sind es nur 59,4 Prozent. 31,1 Prozent aller Berliner Schülerinnen und Schüler besuchen eine Ganztagsschule in gebundener Form – im Bundesschnitt sind es erst 17,4 Prozent. 53,4 Prozent der Berliner Grundschüler wechseln aufs Gymnasium. Die Zahl der Schüler, die in den Stufen sieben bis neun eine Klasse wiederholen, sank von 3,6 Prozent im Jahr 2002 auf 1,8 Prozent im Jahr 2014. Bundesweit sind es 2,7 Prozent.

Allerdings schneiden Berlins Schülerinnen und Schüler in den großen Schulstudien im Schnitt schwach ab. Und überdurchschnittlich viele verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss (9,2 Prozent gegenüber im Bundesschnitt 5,8 Prozent). Der Anteil von ausländischen Schülern ohne Abschluss liegt ebenfalls deutlich über dem Bundesschnitt (12,9 Prozent).

Brandenburg

Beim Übergang aufs Gymnasium liegt Brandenburg mit einer Quote von 44,9 Prozent im Bundesschnitt. Ebenfalls bei der Quote der Schülerinnen und Schüler, die zwischen dem siebten und dem neunten Schuljahr eine Klasse wiederholen müssen (2,5 Prozent). Nur wenige ausländische Schüler in Brandenburg verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss (3,8 Prozent). Insgesamt verlassen 7,7 Prozent die Schule ohne Abschluss – damit liegt Brandenburg unter den Ländern im Mittelfeld. Bei den in den Schultests wie Iglu oder Pisa gemessenen Kompetenzen ergibt sich für Brandenburg kein einheitliches Bild, schreiben die Forscher.

Ausblick

Die Autoren der Studie fordern ein höheres Tempo bei den Schulreformen, bei der Ganztagsschule, bei der Inklusion sowie bei der Integration von ausländischen Schülerinnen und Schülern. Qualität müsse aber vor Geschwindigkeit gehen. Die Bertelsmann-Stiftung will nach sieben Jahren keinen weiteren „Chancenspiegel“ herausbringen. Einerseits fördere die Stiftung zeitlich befristete Projekte, heißt es von dort. Auch entwickle sich die Schulwelt nicht so schnell, als dass sich aus Studien über kürzere Zeiträume neue Ergebnisse erwarten ließen. Die Stiftung werde das Thema Chancen im Bildungswesen aber weiter im Auge behalten.  

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